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PRIDEBLOG Innere Unruhe und rührige Mütter

Die Münchner*innen sind wieder in Kyiw. Zum fünften Mal nun schon unterstützen wir, Lesben und Schwule aus der Münchner Community, unsere Freundinnen und Freunde vor Ort. Die haben in diesem Jahr einen wunderbaren Pride organisiert, mit einer Pride Week, die reich an bunten, kreativen und lehrreichen Events ist. Und einen Pride March, der so viel Unterstützung aus allen Schichten der Gesellschaft erfährt, dass man getrost von einer Zeitenwende sprechen kann. Im Fernsehen und in den U-Bahnen läuft eine Kampagne pro Pride, viele Politikerinnen und Politiker, Künstler*innen, Blogger, ja Soldaten stehen für Menschenrechte ein, die Gegner sind schwach. Wir Münchnerinnen und Münchner haben unseren Anteil an diesem Erfolg; wir beteiligen uns auch am Kulturprogramm. “Unsere persönliche Sicherheit dient der Entwicklung des Landes” lautet grob übersetzt die Botschaft des diesjährigen KyivPride. Oder anders: Alles wird gut!

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Samstag – der letzte Tag vor dem Pride-March und die innerliche Spannung steigt leicht, wenn ich schon um 5 Uhr in der Früh wach werde. Als Langschläferin eine eher unübliche Zeit für mich. Heute schreibe ich nun meinen ersten Blog für Munich Kiev Queer, nachdem ich letztes Jahr zum allerersten Mal am KyivPride teilgenommen hatte. Die persönlichen Wahrnehmungen und Gedanken nun in der Kürze niederzuschreiben, empfinde ich als gar nicht so leicht, denn diese sind sehr zahlreich. Die ganze Woche vergleiche ich meine Erlebnisse von 2015 mit der aktuellen Situation und bin wahnsinnig beeindruckt, wieviel sich hier in der kurzen Zeit positiv verändert hat. Ich fühle mich als Frau und Lesbe sehr sicher, im Alleingang in Kyiw unterwegs zu sein und spüre die freundliche Atmosphäre und Aufmerksamkeit der Menschen. Ich liebe die vielseitige Architektur der Stadt und sehe ein großes Potential an Tourismus, wenn mehr Geld in die Infrastruktur und Städteplanung fließen könnte. Wie sehr wünsche ich mir, dass der Krieg im Osten beendet wird, die Menschen endlich in Frieden leben können und die notwendige Aufbauarbeit möglich wäre. Der Eurovision Song Contest wäre eine gute Chance für Kyiw.

Nun zum Tagesablauf, der wie immer gut organisiert ist.  Mittags treffen wir uns mit Elena Kotlyarova und einer Kollegin aus der Stadtverwaltung im Shevchenko Park. Elena berichtet von den vielen Briefen, die den Bürgermeister Vitali Klitschko erreichen, um die Unterstützung des Pride im Hinblick der Sicherheit einzufordern. Offiziell hat Klitschko das auf dem letzten UN Treffen zu HIV / AIDS in New York mündlich zugesichert. Es gibt jetzt sogar Gerüchte, dass er selbst am Sonntag teilnehmen wird. Das kann Elena leider nicht bestätigen. Schade, denn er hätte damit ein sehr gutes Signal nach außen gesendet. Es wird wohl noch einige Jahre dauern. Zur Zeit gehe es ganz und alleine um die Schutzmaßnahmen von Minderheiten und nicht um LGBTQI-Rechte speziell. Eine höhere Aufmerksamkeit, berichtet Elena, fordere der Krieg im Osten, die Visaangelegenheiten, die angestrebte europäische Zugehörigkeit, die Probleme nach dem Maidan und die allgemeinen Menschenrechte. Schließlich schlägt sie uns vor, mit weiteren Veranstaltungen etwa kultureller Art mehr in die Öffentlichkeit zu treten.

Elena hat uns ein sehr realistisches Bild von der momentanen Situation der LGBTQI-Community in der ukrainischen Gesellschaft wiedergegeben und damit bin ich vorerst zufrieden aus dem Gespräch gegangen.

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Danach geht es weiter zur Elternorganisation TERGO, die von Bogdans Mutter Elena Globa ins Lebens gerufen wurde – Bogdan ist einer der großen Aktivisten der Ukraine. Hier treffen wir auf die Mütter von schwulen, lesbischen und trans* Kindern, die mit hohen Engagement und sehr viel spürbarer Liebe aktiv ihre volle Unterstützung geben. Offiziell gibt es zusätzlich zwei Väter und einen Großvater, die der Initiative angehören, allerdings an diesem Tag nicht anwesend sind. Elena moderiert die gesamte Diskussion und übersetzt gleichzeitig in englischer und ukrainischer Sprache. Für mich selbst ein unvorstellbares Talent.

Insgesamt ist diese Begegnung für mich sehr emotional , denn alle Frauen berichten von ihren Erlebnissen, die teilweise sehr schmerzhaft waren. Seit der Gründung der Initiative hat sich allerdings sehr viel verändert und alle Frauen strahlen einen starken Optimismus und Willen an Aktivismus aus. Aufgrund dessen würden gerne alle Mütter auf dem Pride mitlaufen wollen, allerdings entscheidet hier endgültig der aktuelle psychische Zustand in den einzelnen Fällen. Die Initiative hat für morgen die Entscheidung getroffen, zum ersten Mal mit einem eigenen Banner mitzulaufen. Das finde ich sehr mutig, denn das ist ein weiterer Schritt in die Öffentlichkeit.

Verstärkte Öffentlichkeitsarbeit über Broschüren, Aufklärungsmaterialien, Radiosendungen und social networking ist generell die Strategie, die TERGO anwendet. Zur Zeit befindet sich eine eigene Fotoausstellung als Aufklärungsprojekt in der deutschen Botschaft in Kyiw.

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Den größten Erfolg sehe ich allerdings in der Annäherung an das Schulministerium in diesem Jahr. So wurde ein erstes organisiertes Treffen mit Biologie- und Sozialpädagogen aus verschiedenen Regionen genehmigt, auf dem Mitglieder von TERGO über Homosexualität, Toleranz und persönliche Erfahrungen sprechen konnten. Am Ende fühle ich mich in dieser Gruppe sehr wohl und wäre gerne länger geblieben, um auch die eigenen Erfahrungen kommunizieren zu können. Vielleicht beim nächsten Mal?

Am späten Nachmittag zeigen sie im Pride House den Film „Parallelen: LGBT-Activismus in München and in Kyiv“ von Ania Shapiro. Leider kommen wir zu spät, sodass ich mir nun vornehme, das Video in München anzuschauen. Die darauffolgende Podiumsdiskussion, an der ebenso unsere Stadträtin Lydia Dietrich teilgenommen hatte, erschwerte sich leider aus technischen Gründen in der Übersetzung. Schade, ich hätte gerne dem Thema folgen wollen, aber ich konnte es nur in Teilstücken. Lydia meisterte jedoch diese Situation mit ihrer politischen Erfahrung. Chapeau!

Der Tag endete schließlich mit der Einladung in die Residenz des kanadischen Botschafters. Wir werden von dem sehr sympathischen Stellvertreter begrüßt, weil der Botschafter sich zur Zeit in Ottawa aufhält. Es werden circa 100 Diplomaten am Pride teilnehmen, insofern herrscht eine sehr positive und humorvolle Stimmung am Abend. Anwesend ist ebenso aus dem Europäischen Parlament Rebecca Harms von Bündnis 90/ Die Grünen, die ihre Teilnahme am Marsch bestätigt.

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Ich bin froh, dass diese Empfänge eher als Austausch und zum Kennenlernen dienen. Mit einem leckeren Buffet, Sekt und Wein fühle ich mich in diesen Räumen sehr wohl. Ich komme mit Tatjana ins Gespräch, die in einem deutsch-ukrainischen Kulturaustauschprojekt involviert ist, das zwischen Berlin und sechs ukrainischen Städten besteht.

In dieser Nacht schlafe ich nicht mehr und die letzte E-Mail mit Anweisungen zum Pride-Marsch und seinen Sicherheitsmaßnahmen wird nach 1 Uhr versendet. Diese Situation kenne ich noch von 2015. Daran wird sich wohl niemals etwas ändern.

[Kerstin Dehne]

PRIDEBLOG Besuch vom Rechten Sektor

Die Münchner*innen sind wieder in Kyiw. Zum fünften Mal nun schon unterstützen wir, Lesben und Schwule aus der Münchner Community, unsere Freundinnen und Freunde vor Ort. Die haben in diesem Jahr einen wunderbaren Pride organisiert, mit einer Pride Week, die reich an bunten, kreativen und lehrreichen Events ist. Und einen Pride March, der so viel Unterstützung aus allen Schichten der Gesellschaft erfährt, dass man getrost von einer Zeitenwende sprechen kann. Im Fernsehen und in den U-Bahnen läuft eine Kampagne pro Pride, viele Politikerinnen und Politiker, Künstler*innen, Blogger, ja Soldaten stehen für Menschenrechte ein, die Gegner sind schwach. Wir Münchnerinnen und Münchner haben unseren Anteil an diesem Erfolg; wir beteiligen uns auch am Kulturprogramm. “Unsere persönliche Sicherheit dient der Entwicklung des Landes” lautet grob übersetzt die Botschaft des diesjährigen KyivPride. Oder anders: Alles wird gut!

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Der Tag gestern war lange, aufregend und ereignisreich für mich. Im Gegensatz zu den anderen bin ich der Neuling hier. Ich war bis jetzt weder jemals auf einem CSD noch in Kyiw.

Der Tag ging los bei der deutschen Botschaft. Um 9.30 uhr waren wir dort eingeladen, um über die Situation der LGBT-Gemeinde in der Ukraine zu sprechen. Die Zukunftsprognose der Botschaftsmitarbeiter für das Land war insgesamt positiv. Man glaubt an die junge Generation von Kyiwern, die heute hier aufwächst. Wenn auch die Lage für Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender alles andere als gut ist.

Viel ging es auch um die Sicherheitsvorkehrungen am Sonntag. Uns wurde erneut versichert, dass die Stadt beinahe alles Menschenmöglich tut, um aus dem Pride March ein friedliches Fest zu machen.

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Nach dem Botschaftstreffen bin ich alleine durch Kiew gestromert. Ich habe mich zweimal verlaufen, leckeren Kaffee getrunken und mir Kyiws Menschen angeschaut. Die allermeisten sind immer sehr nett zu mir. Meistens beginne ich eine Unterhaltung so, dass ich auf Russisch frage, ob sie Englisch sprechen. Die meisten können sehr gut englisch und oft sogar auch deutsch. Und sie freuen sich immer über mich, ich muss gar nichts tun dafür. Einfach nur ein interessierter europäischer Tourist sein.

Als ich gestern den weg zur Metro nicht gefunden habe, habe ich in einem kleinen Café nachgefragt, und da der junge Besitzer dort nicht genug Englisch konnte und ich seiner Wegbeschreibung auf Ukrainisch nicht so ganz folgen konnte, hat er kurzerhand sein Kaffe geschlossen, um mich die fünf Minuten zur Metrostation zu begleiten.

In der Kleinen Oper, in der dieses Jahr das Pride House untergebracht ist, hielt Naomi später einen Workshop über aktiven, kreativen Protest. Es war interessant, aber ein bisschen schade, dass wir nicht gleich kreative Proteste für den Marsch am Sonntag fix planen konnten. Es war witzig und schön zu sehen, was für eine kleine Berühmtheit Naomi bei den jungen LGBT-Leuten hier ist, unsere Naomi Lawrence von Munich Kiev Queer. Die meisten haben schon einmal von ihr gehört und viele wollten nach dem Workshop unbedingt ein Bild mit ihr machen.

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Als der Workshop und die Foto-Sessions zu Ende waren, bin ich runter, um zu rauchen. Nach zehn Minuten kam Dascha aus der Kyiwer Szene ganz aufgeregt zu mir gerannt und meinte, ich müsste unbedingt hochkommen. Ich habe überhaupt nicht verstanden, um was es ging und dachte zuerst, da oben würde was Supertolles passieren, was ich verpassen könnte. So toll war es dann aber doch nicht. Die Stimmung war sehr gedrückt und erst nach und nach verstand ich, was los war.

Vor der Oper war ein Auto mit Neonazis entdeckt worden vom Rechten Sektor und und das machte alle sehr nervös. Die Security-Menschen wussten nicht, ob das Auto dort nur zufällig stand, ob da Spione saßen oder auch nur eine Vorhut einer großen Menge Rechtsradikaler. Wir sollten jedenfalls ruhig bleiben, uns nicht in die Nähe der Fenster stellen und abwarten. Die, die gehen wollten konnten, durften als Heteropärchen „verkleidet“ nach und nach das Haus verlassen.

Das Programm wurde so zwar ein wenig nach hinten verschoben, stattgefunden aber hat alles. Also warteten wir in der Oper. Ich weiß jetzt heute gar nicht mehr so genau, wie es mir dabei ging. Ich glaube, ich war nervös, jetzt aber auch nicht so sehr, dass ich wirklich Angst hatte.

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Nach dem Workshop lief im Pride House Lorenz Kloskas Film „Rein ins Leben“ über die Situation von LGBT-Aktivist*innen in der Ukraine, diesen Film haben der CSD München und das Münchner Kulturreferat gefördert, Munich Kiev Queer war der Kooperationspartner. Anschließend gab es eine Disskusion. Naomi, Stefan Block, auch von Munich Kiev Queer, und ich gingen kurz nachhause. Ich zog mich um, aß ein wenig und Stefan und ich fuhren zur Oper zurück, um nicht die Pride-Party zu verpassen. Wir kamen ein wenig zu spät und hatten dann leider nur noch knapp zwei Stunden bis zum Schluss. Spaß hatte ich trotzdem.

Um viertel nach vier war ich endlich im Bett.

[Lukas Mink]

PRIDEBLOG Wechselbad der Gefühle

Die Münchner*innen sind wieder in Kyiw. Zum fünften Mal nun schon unterstützen wir, Lesben und Schwule aus der Münchner Community, unsere Freundinnen und Freunde vor Ort. Die haben in diesem Jahr einen wunderbaren Pride organisiert, mit einer Pride Week, die reich an bunten, kreativen und lehrreichen Events ist. Und einen Pride March, der so viel Unterstützung aus allen Schichten der Gesellschaft erfährt, dass man getrost von einer Zeitenwende sprechen kann. Im Fernsehen und in den U-Bahnen läuft eine Kampagne pro Pride, viele Politikerinnen und Politiker, Künstler*innen, Blogger, ja Soldaten stehen für Menschenrechte ein, die Gegner sind schwach. Wir Münchnerinnen und Münchner haben unseren Anteil an diesem Erfolg; wir beteiligen uns auch am Kulturprogramm. “Unsere persönliche Sicherheit dient der Entwicklung des Landes” lautet grob übersetzt die Botschaft des diesjährigen KyivPride. Oder anders: Alles wird gut!

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Donnerstag – ein Wechselbad der Gefühle. Viele gute Eindrücke, Ansätze, die ich geradezu visionär finde – auch für deutsche Verhältnisse – und natürlich die obligatorischen schlechten Nachrichten. Irgendwie Ukraine halt.

Aber der Reihe nach; morgens Treffen um 10.15 Uhr am McDonald’s auf dem Maidan. Unser üblicher Platz für Treffen vor den einzelnen Terminen, denn der Maidan liegt zentral im Herzen von Kyiw. Von hier aus sind alle Organisationen in 10 bis maximal 15 Minuten zu Fuß zu erreichen. Und natürlich ist der Platz bei gutem Wetter auch sehr schön. So war es auch heute. Als wir den Treffpunkt erreichten, dösten die Raucher schon in der Vormittagssonne und die Zigaretten glühten langsam vor sich hin.

Dann führte Conrad, Conrad Breyer, Mitglied von Munich Kiev Queer, unsere Gruppe zu Insight. Diese Organisation, mit Fokus auf Transgendern und Frauen, hat erst vor Kurzem ein neues Büro in der Nähe des Michaelsklosters bezogen. Die Räume sind sehr schön und großzügig. Das LGBTI-Zentrum erinnert mich stark an SUB oder DIVERSITY in München. Erstmal nehmen wir alle auf den super gemütlichen Sitzsäcken in allen Farben des Regenbogens platz. – Hoffentlich kommen wir da wieder raus.

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Svetlana, Fritz und Yuri von Insight berichten uns Spannendes zu ihrer Arbeit vor Ort. Von ihren Kulturtagen, dem Festival der Gleichheit, das in Kyiw zwar ein großer Erfolg waren, aber leider in Lwiw, im überwiegend katholischen Westen der Ukraine, leider am Widerstand der lokalen Behörden und Rechtsradikaler gescheitert ist. Das überrascht uns dann doch sehr. Svetlana erklärt, dass die West-Ukraine sich zwar deutlich europäisch gibt, aber unter der Oberfläche sind die Einstellungen nicht anders als im Rest des Landes. Dies sei sehr gut an der Person des Bürgermeisters von Lwiw zu sehen. Sehr schade. Andererseits berichten die drei auch von einem Chorbesuch aus den USA und müssen ein Schmunzeln unterdrücken. Bei dem Konzert, zu dem die amerikanische Botschaft eingeladen hatte und zu dem u.a. auch homophobe Politiker und Vertreter der Kirchen gekommen waren, outeten die Mitglieder den Chor als schwul und erzählten individuelle Coming-Out-Geschichten. – Im Nachgang zu der Veranstaltung soll den Medien untersagt worden sein, die Gesichter einiger Prominenter aus dem Publikum im „Moment der Wahrheit“ zu zeigen.

Ein anderes Detail aber hat mich sehr faziniert: Insight hat im Umfeld dieser Kulturtage auch ganz bewusst den Schulterschluss mit anderen Organisationen für Minderheiten gesucht. So haben sie sich mit Behindertenverbänden, religiösen und ethnischen Minderheiten getroffen und Workshops zu gemeinsamen Zielen veranstaltet. Allen ist hierbei gemein, dass sie in Ruhe und möglichst ohne Angst in der Ukraine leben wollen. Auf dieser Basis gilt es nun, eine Allianz zu schmieden, um mit Kampagnen die Öffentlichkeit für die Rechte und Bedürfnisse aller Minderheiten zu sensibilisieren. Aber auch die Transleute sind gut organisiert. Fritz berichtet von regelmäßigen Treffen der Gruppe, zu denen bis zu 30 Leute kommen. Ihm ist wichtig, dass nicht zwischen Transformation von Mann zu Frau oder von Frau zu Mann unterschieden wird. Nur der Mensch zähle.

Der zweite Termin führt uns zum Kiewer Queer Home der Gay Alliance Ukraine. Diese separaten Wohnungen dienen als Treffpunkt für LGBTI-Aktivist*innen – diesmal aber haben wir dort heterosexuelle Menschen getroffen. Das gibt es? Und in der Ukraine? LGBT-friendly? Die Organisation SCI (Service Civil International), die internationalen Zivildienst organisiert, hat seit 2015 einen Zweig in Kyiw, der sich mit Menschenrechten beschäftigt. Und darunter werden auch LGBTI-Rechte gesehen. Super, endlich junge Ukrainer, die das verstanden haben. Also treffen wir uns mit SCI, mit Jana, Oleksey, Sarah, Alessia und Karlo. Sie interessieren sich sehr für unsere Kooperation und deren Historie. Daneben, und das fand ich persönlich sehr schade, berichten sie aber auch davon, dass sie als Nicht-LGBTI-Menschen auf Veranstaltungen schief angeschaut wurden bzw. sogar einige Sprüche einstecken mussten. Schwule und Lesben, die Heteros diskriminieren. Gerade weil ich es super finde, dass sich junge Menschen außerhalb der „üblichen“ Kreise für unsere Themen interessieren, bin ich betroffen. Natürlich kann im Gespräch die Ursache schnell geklärt werden; Die LGBTI-Aktivist*innen hier vor Ort haben bisher nur schlechtes von außen erfahren und können sich wahrscheinlich gar nicht vorstellen, dass es auch anders geht. – Daran muss aber noch gearbeitet werden. . . . je länger ich darüber nachdenke aber auch bei uns in München. Ein schönes Beispiel für den Erfahrungstransfer von Kyiw nach München.

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Dann etwas Pause zum Verschnaufen.

Nachmittagstermin bei der Gay Alliance Ukraine, im Hauptquartier sozusagen. Gleich nach dem Hereinkommen wird uns aber gesagt, dass wir uns nicht an diese Räume zu gewöhnen brauchen; Ende des Monats zieht die Zentrale in ihr Queer Home, in dem wir am Vormittag bereits waren, um Geld zu sparen. Die Gay Alliance Ukraine ist derzeit finanziell unter Druck; das liegt am Audit eines Geldgebers. Gleichzeitig gilt es, neue Geldgeber zu akquirieren und die Organisation etwas zu verschlanken. Leider musste man sich auch von einigen Mitarbeitern trennen, sagt Anna Leonova, die neue Chefin. Yuri Yourski, der sowohl Teil von  Munich Kyiv Queer als auch der Gay Alliance Ukraine ist, und freundlicherweise übersetzt, fügt hinzu, dass dies kurzfristig natürlich über Ehrenamt kompensiert wird. Langfristig muss die Arbeit aber wieder auf breiteren Schultern verteilt werden. Das Audit sei schafbar.

Die Gay Alliance Ukraine will diese Situation auch als Chance wahrnehmen, für Veränderungen in Strukturen und mehr Transparenz. Bisher lag das Wissen z.B. über Finanzen immer in den Händen einzelner, dies wird sich jetzt ändern, so Anna. Anschließend geht es noch um die Projekte des neuen Kyiwer Zweiges von Munich Kyiv Queer, Kyiv Munich Queer. Ideen sind genug da – Aber wir sollten es besser langsam angehen, damit die Organisation organisch an den Aufgaben wachsen kann. Darin sind sich dann doch alle einig. Geplant sind für 2016/2017 eine Art Tour des Volunteers-Workshops der Münchener durch die Ukraine, ein Creative-Protest-Festival und noch einiges mehr. Das klingt doch für den Anfang gar nicht so schlecht. Nach dem Audit geht es dann an die konkrete Planung, die von Yuri koordiniert wird.

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Ab zum nächste Termin. Mit Yuri. Mit der Straßenbahn. Soviet-Chic. Die Fahrkarten werden von einer Dame in traditioneller Uniform verkauft – sehr typisch. Fast könnte man schon an Folklore für uns westliche Touristen denken.

Der Abendtermin ist in der Kleinen Oper, die für die Woche zum Pride House umfunktioniert wurde. Ein Film über den Pride in Georgien 2015. Leider kommen wir etwas zu spät, sodass der Film schon vorbei ist. Aber die Diskussion läuft. Ich verstehe, dass die Situation in Georgien noch wesentlich schlimmer ist als in Kyiw. Die Menschen dort sind sehr mutig, denn nicht einmal die Polizei schützt sie wirklich. Andererseits stelle ich fest, dass ich auch irgendwie abgestumpft bin von den Erzählungen über verprügelte Aktivisten. Ich frage mich auch, ob das zur Einstimmung der Anwesenden auf den Pride in drei Tagen geeignet ist. Ich schaue aus dem Fenster. Die Sonne ist schon längst untergegangen, als wir die Oper verlassen. Hunger? Ja, ein wenig. Wir sitzen in unserem ukrainischen Stammlokal und unterhalten uns über die Ukraine, den Tag oder auch mal andere Themen. Der Pride rückt näher. Alle sind etwas erschöpft, aber auch aufgeregt. Die Stimmung ist gut. Dennoch wird der Abend nicht lang. Ich bin um halb eins im Bett. – Gedanken an zuhause. Dann kommt der Schlaf.

[Stefan Block]

PRIDEBLOG Ein schöner Tag

Die Münchner*innen sind wieder in Kyiw. Zum fünften Mal nun schon unterstützen wir, Lesben und Schwule aus der Münchner Community, unsere Freundinnen und Freunde vor Ort. Die haben in diesem Jahr einen wunderbaren Pride organisiert, mit einer Pride Week, die reich an bunten, kreativen und lehrreichen Events ist. Und einen Pride March, der so viel Unterstützung aus allen Schichten der Gesellschaft erfährt, dass man getrost von einer Zeitenwende sprechen kann. Im Fernsehen und in den U-Bahnen läuft eine Kampagne pro Pride, viele Politikerinnen und Politiker, Künstler*innen, Blogger, ja Soldaten stehen für Menschenrechte ein, die Gegner sind schwach. Wir Münchnerinnen und Münchner haben unseren Anteil an diesem Erfolg; wir beteiligen uns auch am Kulturprogramm. “Unsere persönliche Sicherheit dient der Entwicklung des Landes” lautet grob übersetzt die Botschaft des diesjährigen KyivPride. Oder anders: Alles wird gut!

Es ist frisch geworden in Kyiw, aber zwischen den Wolken scheint immer wieder die Sonne durch. Überhaupt, den Himmel über Kyiw fand ich schon immer ganz besonders. Es gibt so viel Monumentales in der Stadt und der Himmel bemüht sich nach Kräften, die passende Kulisse dazu zu liefern.

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Heute treffe ich Marina aus Kherson um 10 Uhr im Queer Home. Sie betreut ehrenamtlich eine Gruppe von Volunteers, die helfen wollen, Schilder und Transparente für den Pride zu malen. Yuri Yourski, der Programmdirektor unseres Kooperationspartners Gay Alliance Ukraine, hatte mich gefragt, ob ich Lust hätte, dabei zu sein und die Vorbereitungen zu unterstützen. Natürlich will ich.

Auf dem Weg verlaufe ich mich trotz Google Maps ein bisschen. Nicht schlimm, im Gegenteil, so entdecke ich einige neue, schöne Ecken in Kyiw.

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Zum Glück hat Ania Shapiro, die auch Mitfrau bei Munich Kyiv Queer ist, angeboten, bei der Verständigung zu helfen, denn Marina und ich wären sonst auf Hände und Füße angewiesen. Wir beide sprechen kein Englisch bzw. Russisch, Ania schon. Auch jemand vom Organisationskomitee des KyivPride ist gekommen. Ich mache Vorschläge, wie wir unsere Botschaften visuell möglichst gut vermitteln können. Je einfacher und klarer desto besser. Optisch wie inhaltlich. Wir sind uns schnell einig: Die Parole lautet „Sicherheit für alle“.

Das klingt untypisch für eine LGBTIQ-Demo. Keine Forderungen nach Gleichberechtigung und Gesetzesänderungen. Aber so ist die Situation momentan. Sicherheit für Leib und Leben ist ein hohes Gut in einem Land, das sich im Krieg befindet. Für die Community allemal, denn der Rechte Sektor, die christlichen Fundamentalisten und Russland blasen ins selbe Horn, wenn es darum geht, LGBTQI für alles, was schlecht läuft, verantwortlich zu machen. Aber seit Russlands Propaganda behauptet, dass die Ukrainer russische Kinder töten und deren Blut trinken, merken die Ukrainer, wie es ist, Ziel einer Hetzkampagne zu sein. Es verändert sich etwas in den Köpfen.

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Um 11 Uhr kommt die Gruppe Volontäre. Ich bin überrascht, denn sie kommen aus verschiedenen Teilen der Ukraine und aus dem europäischen Ausland. Wie sich herausstellt, werden sie von der internationalen Organisation S.C.I. unterstützt. Deren Schwerpunkte sind Freiwilligenarbeit für Frieden, gewaltfreie Konfliktlösung, soziale Gerechtigkeit, nachhaltige Entwicklung und interkultureller Austausch.

Sie wollen etwas tun und setzen bereitwillig unsere Ideen um. Sie sind nicht Teil der LGBTI-Community, deshalb bin ich erstmal verwundert, dass sie uns helfen. Aber Yana aus der Gruppe erklärt mir, dass das das Konzept von S.C.I. ist. Verständigung durch Kennenlernen, gemeinsames Arbeiten und gemeinsame Erfahrungen.

Die jungen Leute sind der Beweis dafür, dass dieses Konzept funktioniert. Sie haben offensichtlich Spaß bei der Arbeit, denn zwischendurch gibt es immer wieder ein paar Tanzeinlagen.

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Gegen 15 Uhr ist alles fertig. Die Schilder sind super geworden. „Sicherheit für alle“ heißt auf Ukrainisch ‚“Безпека для всіх“. Die Idee war, das Wort Sicherheit sehr groß zu schreiben, so dass alle es lesen können. Also kommt ein Buchstabe auf ein Plakat und wir haben sieben Leute, die diese Schilder in der richtigen Reihenfolge tragen werden. „Für alle“ hat auch sieben Buchstaben. Und diese werden auf der Rückseite stehen. Wir werden eine Choreographie einüben, so dass auf ein Kommando hin die Schilder gleichzeitig umgedreht werden. Das soll während des ganzen Marsches passieren. Es ist ein gute Idee, denn die Größe und die Bewegung der Bilder erzeugen Aufmerksamkeit.

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Danach laufe ich zurück zu meinem Appartement, das ich mir mit meinem Kollegen Stefan teile, Stefan Block von Munich Kyiv Queer. Das ist inzwischen schon Tradition, bereits zum dritten Mal gründen wir in Kyiw eine WG. Meistens in der Nähe vom Maidan. Es ist jedes mal wieder spannend, wie unterschiedlich die Wohnungen und die Häuser sind, in denen wir leben.

Ich koche mir etwas zu essen und bin froh, mich ein bisschen ausruhen zu können. Aber nicht allzu lange, denn mein Bericht über die Creative Protest Tour in Krivyi Rih ist überfällig.

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Das Treffen mit Anna Dovgopol von der Heinrich Böll Stiftung habe ich leider verpasst, denn das war um 14 Uhr. Aber Stefan erzählt mir davon. Es war wieder sehr informativ. Auch das Treffen mit Anna Dovgopol hat inzwischen Tradition. Sie informiert uns über die Lage im Land und versorgt uns mit Hintergrundwissen. Diesmal war das Treffen wohl ausgelassener und entspannter als sonst. Die Hoffnung auf einen friedlichen Pride hat überall spürbare Auswirkungen. Und diese Hoffnung ist begründet, denn zum ersten Mal kooperiert die Polizei wirklich mit dem Organisationsteam des Pride. Prominente zeigen offen ihre Solidarität und fünf Mitglieder des ukrainischen Parlaments werden am Marsch teilnehmen. Es gibt sogar eine Kampagne für den Pride, die in den Leuchtkästen der U-Bahn hängt. Das war noch nie da.

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Später beim Essen in einem georgischen Restaurant erzählt unser Stas, Stanislav Mishchenko, Mitglied im Organisationskomitee des KyivPride, dass das ganze Land weiß, dass am Sonntag der Pride in Kyiw stattfindet. Die Tatsache, dass die Ukraine den Eurovision Song Contest gewonnen hat und nächstes Jahr dieses riesige Spektakel ausrichten wird, ist sicherlich eine glückliche Fügung des Schicksals für uns. Die Ukraine muss beweisen, dass sie das leisten kann: „Sicherheit für alle!“

[Naomi Lawrence]

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CSD 2016: Regenbogenfamilie, Filmemacherinnen und jede Menge Aktivisten!

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Die Zusammenarbeit hat inzwischen Tradition. Seit 2012 lädt der CSD Aktivist*innen aus Kyiw zur Pride Week nach München ein. Unter den Gästen sind dieses Jahr auch die zwei lesbischen Filmemacherinnen Liudmila Kyrylenko und Vera Yakovenko, die drei ihrer Werke präsentieren, so zum Thema Regenbogenfamilien. Sie kommen mit ihrem Sohn. Die Menschenrechtsaktivistin Ania Shapiro vergleicht im Vorfeld in einer Videokampagne die Geschichte der Münchner und der Kyiwer Lesben- und Schwulenbewegung.

Lesben, Schwule, Bi-, Trans- und Intersexuelle (LSBTI) haben es in der Ukraine nicht leicht. Zwar ist Homosexualität dort kein Verbrechen mehr, die Gesellschaft aber steht sexuellen Minderheiten nicht eben offen gegenüber. Verbale und körperliche Übergriffe gehören zum Alltag. Um der Community vor Ort zu helfen, den Menschen zur Seite zu stehen, haben sich Aktivistinnen und Aktivisten der Partnerstädte München und Kyiw vor fünf Jahren zusammengetan. Lesben, Schwule, Bi-, Trans- und Intersexuelle kooperieren seitdem über alle Organisationen, Gruppen und Vereine hinweg, auch der CSD und der KyivPride, wie der Christopher Street Day in Münchens Partnerstadt Kyiw heißt.

Angefangen hatte der Austausch vor fünf Jahren mit drei Gästen aus Kyiw, über die Jahre sind es mehr geworden. 2016 heißt der CSD zehn Leute willkommen, darunter altbekannte Aktivist*innen wie Olena Semenova und Stanislav Mishchenko, aber auch neue, so Maryna Usmanova, Andrii Marchenko, alle vom Organisationskomitee des KyivPride, sowie Yuri Yourski von der Gay Alliance Ukraine. Lag der Fokus früher noch auf dem gegenseitigen Kennenlernen, bringen sich die Ukrainerinnen und Ukrainer längst selbst in das Programm des Münchner CSD ein. Zwar werden sie wie gewohnt die wichtigsten LSBTI-Organisationen Münchens kennen lernen wie das Schwulenzentrum Sub, die Lesbenberatung LeTRa, das Aufklärungsprojekt für Schulen etc. Oberbürgermeister Dieter Reiter, Stadträtin Lydia Dietrich und Stadtrat Thomas Niederbühl werden die Gäste im Rathaus empfangen; Generalkonsul Vadym Kostiuk erwartet sie im Konsulat.
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Die Ukrainer*innen werden aber auch zwei eigene Veranstaltungen anbieten. So vergleicht in „Parallelen – LSBTI-Aktivismus in München und in Kyiw“ am Sonntag, 3. Juli, 19.30 Uhr im Sub, Müllerstraße 14, die Menschenrechtsaktivistin Ania Shapiro in ihrer Videokampagne die Geschichte der Münchner und der Kyiwer LSBTI-Bewegung über die Jahrzehnte. Ihre Botschaft: Es lohnt sich zu kämpfen. In ihren Interviews kommen Pioniere aus dem München der 80er Jahre und Kyiw heute zu Wort. Am Mittwoch, 6. Juli, treten um 19.30 Uhr, ebenfalls im Sub, Liudmila Kyrylenko und Vera Yakovenko, zur Diskussion an („Leben hinter Masken“). Die  Filmemacherinnen aus Kyiw haben einen Sohn, Vladyslav, der mit einer Autismus-Spektrum-Störung aufgewachsen ist. Als Regenbogenfamilie können sie in der Ukraine nicht auftreten. Deshalb werden die beiden wie viele lesbische Mütter als Alleinerziehende behandelt. Ihre eigene Situation ist Ausgangspunkt für drei ihrer Dokumentarfilme, die wir zeigen. An der Debatte nimmt auch Anastasiia Kyrychenko teil von der LSBTI-Organisation LIGA aus Mykolajiw, die die Filme in Auftrag gegeben hat.

Alle Veranstaltungen sind Teil der CSD-PrideWeek vom 2. bis 10. Juli, in der die Münchner LSBTI-Community eine ganze Woche lang auf ihre Anliegen aufmerksam macht. Zum Motto hat der Münchner CSD den Satz „Vielfalt verdient Respekt. Grenzenlos!“ gemacht. Als Partner-Pride des Münchner CSD bringt sich der KyivPride jedes Jahr aufs Neue ins Programm ein. Organisiert werden die Veranstaltungen in Kooperation mit der Kontaktgruppe Munich Kyiv Queer, die seit 2012 die Szenepartnerschaft zwischen der Münchner und der Kyiwer LSBTI-Community koordiniert.

PRIDEBLOG Zeitenwende in Kyiw

Die Münchner*innen sind wieder in Kyiw. Zum fünften Mal nun schon unterstützen wir, Lesben und Schwule aus der Münchner Community, unsere Freundinnen und Freunde vor Ort. Die haben in diesem Jahr einen wunderbaren Pride organisiert, mit einer Pride Week, die reich an bunten, kreativen und lehrreichen Events ist. Und einen Pride March, der so viel Unterstützung aus allen Schichten der Gesellschaft erfährt, dass man getrost von einer Zeitenwende sprechen kann. Im Fernsehen und in den U-Bahnen läuft eine Kampagne pro Pride, viele Politikerinnen und Politiker, Künstler*innen, Blogger, ja Soldaten stehen für Menschenrechte ein, die Gegner sind schwach. Wir Münchnerinnen und Münchner haben unseren Anteil an diesem Erfolg; wir beteiligen uns auch am Kulturprogramm. „Unsere persönliche Sicherheit dient der Entwicklung des Landes“ lautet grob übersetzt die Botschaft des diesjährigen KyivPride. Oder anders: Alles wird gut!

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Eine gewisse Euphorie hat die Stadt ergriffen. Ruslana kann kaum glauben, was ihr die Polizei heute angeboten hat, an diesem denkwürdigen Montag, dem 6. Juni. Höchste Sicherheitsstufe für den Pride-Marsch am Sonntag, 5000 Mann mit Einlasskontrolle an einem zentralen Ort. Und das alles nur wegen des Eurovision Song Contest?

Ruslana Panukhnyk gehört dem Organisationsteam des KyivPride an. Sie kümmert sich seit ein paar Jahren mit ihrem Team um das Sicherheitskonzept für den Pride-Marsch. Im vergangenen Jahr noch war sie hart angegangen worden von den Beamten, den Respekt dieser Männer hat sie sich erarbeitet. Am Sonntag wird der „Marsch für Gleichheit“ stattfinden. Er wird groß sein, sichtbar, offen für alle – und hoffentlich sicher. Eine Revolution nach nur fünf Jahren Pride-Bewegung. Natürlich ist ein neuer Polizeichef im Amt, Andrii Kryshenko, der zeigen will, was er kann. Aber die Zeiten haben sich auch geändert im Land, seit dem Maidan und seitdem Jamala für die Ukraine den Eurovision Song Contest gewonnen hat.

Vermutlich werden 2017 Zehntausende nach Kyiw reisen, um das Songspektakel zu verfolgen. Darunter werden schwule Männer sein, sofern sie sich trauen. Denn die Ukraine ist nicht eben als homofreundliches Land bekannt, das wissen inzwischen alle. Die Behörden wollen deshalb unbedingt beweisen, dass die Ukraine ein europäisches Land ist, ein Land, in dem Menschenrechte geachtet, die Rechte von Minderheiten gewahrt werden. Man wittert den großen PR-Coup. Insofern hatte der Gesangswettbewerb in Stockholm dieses Jahr durchaus eine politische Bedeutung, eine große sogar.

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Beim Empfang in der Deutschen Botschaft, die die Pride Week einläutet, wirken alle wie elektrifiziert. Botschafter Christof Weil spricht von einem Ruck, der durchs Land geht. Anna Sharihyna, die dem Organisationskomitee des KyivPride vorsitzt, gibt sich beeindruckt von der überwältigenden Unterstützung, die 2016 von allen Seiten komme, sogar von der Front im Osten. Und Svitlana Zalishchuk, Abgeordnete des ukrainischen Parlaments, preist den Freiheitskampf an, den die LGBT-Community für alle Menschen im Land ausfechte. Die Botschafter der EU, Kanadas und der USA hatten schon im Vorfeld das ihre dazu beigetragen und einen Brief an die Stadtoberen geschrieben, den KyivPride abzuhalten und zu schützen. Im Hintergrund haben sie sicher auch eine Menge Druck gemacht. Groß die Wahl hat das Land nicht, an Russland kann und will sich die Ukraine nicht mehr orientieren, die Westorientierung ist zur Staatsräson geworden.

Bei Wurst und Bier feiert die ukrainische LGBT-Community ihren Erfolg in der Deutschen Botschaft, Ruslana spielt mit, rennt von einem zum anderen, spricht mit allen, bedankt sich. Es ist ein Premiere. Das größte Land in der EU hat den KyivPride zwar immer schon unterstützt, aber nie so ostentativ. Es liegt nicht zuletzt auch an der Münchner Community, das dieser Empfang hier stattfinden kann. Wir von Munich Kyiv Queer, die wir die Kooperation zwischen den Partnerstädten Kyiw und München in LGBT-Belangen koordinieren, haben uns dafür lange stark gemacht. Das  Engagement hat sich ausgezahlt.

Aus München reisen dieses Jahr zwölf Leute nach Kyiw, angeführt von Lydia Dietrich. Die Stadträtin der Grünen vertritt jedes Jahr offiziell den Münchner Oberbürgermeister Dieter Reiter in der Stadt. Empfangen hat sie Reiters Kollege Vitali Klitschko aber trotzdem noch nie; die Münchner Delegation wird seit Jahren konsequent ignoriert. Wir haben in der Stadt unser eigenes Programm, besuchen die wichtigsten LGBT-Organisationen des Landes, die politischen Stiftungen, pflegen den Kontakt zu den deutschen Korrespondenten, treffen unsere Freunde. Längst hat der gegenseitige Austausch etwas von einer Familienfeier – einmal im Jahr sehen sich alle in Kyiw zum Pride und dann, nur vier Wochen später, in München zum CSD. Alle haben sich ihre eigene Unterkunft gesucht, wir kennen die Stadt, integrieren neue Gäste aus Deutschland schnell.

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Zum Besuchsprogramm gehören in diesem Jahr – auch das ist neu – einige Aktionen von Kyiv Munich Queer, das ist der Kyiwer Ableger der Münchner Gruppe. Mit Yuri Yourski, Jan Gubski, Sviatoslav Sheremet und Xenia Smolientsova sowie Stanislav Mishchenko haben sich einige ukrainische Aktivisten zusammengetan, um eigene Projekte in Kyiw zu stemmen.

Mit ihnen treffen wir uns am Dienstag, 7. Juni, zu einer Tour durch die Stadt. Yuri und Yan sitzen auf einem Mäuerchen vor der Metrostation Arsenalna. Es ist 10 Uhr morgens. Die beiden Aktivisten warten auf die Münchner Gruppe. Die Sonne scheint, Sommer in Kiew, alle haben Zeit. So entspannt hat das Besuchsprogramm für die Gäste aus Bayern selten begonnen. Als alle Teilnehmerinnen und auch die Teilnehmer eintreffen, beginnen Yuri und Yan ihre Führung. Die beiden haben sich für eine etwas ungewöhnliche Route entschieden, die von der U-Bahn-Station über das Höhlenkloster Lavra, das Holodomor-Denkmal zum Mutterland-Denkmal führt. Nur wenige Touristen laufen hier. Zwei Stunden sind veranschlagt.

Von Mal zu Mal werden die Orte, die wir besuchen, bedrückender. Da ist das Denkmal für den Großen Vaterländischen Krieg, den Nazi-Deutschland vom Zaun gebrochen hat. Die Holodomor-Gedenkstätte verweist auf die drei großen Hungersnöte, die die Ukraine unter Stalin ertragen musste. Vor dem Höhlenkloster Lavra erfahren wir von Yuri, dass die Orthodoxen einst ein Hospiz für HIV-Infizierte und AIDS-Kranke auf dem Gelände beherbergten, das sie dann aber ausgelagert haben. Mit HIV und AIDS haben sich ja schließlich nur Menschen infiziert, die sich selbst versündigt haben. Und im Weltkriegsmuseum unter der Statue Mutter Heimat geht es abermals um Krieg und Barbarei und den Sieg der Sowjets über Deutschland. Um sie herum stehen etliche weitere Soldaten- und Kriegerdenkmäler, eines heroischer als das andere. Trotzdem ist die Tour interessant, zeigt sie doch, worauf sich die ukrainische Geschichtsdeutung stützt, den Kampf, das Leiden. Bis heute prägt das die Menschen.

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Erst jetzt merken unsere beiden Führer, dass sie mit ihrer Tour etwas auslösen in uns, Trauer und Wut. Doch haben sie richtig gehandelt. Zur Geschichte der Ukraine, ihrer Gegenwart, gehört eben mehr als LGBT-Rechte und letztlich sind wir glücklich darüber, dass wir, Ukrainer und Deutsche, heute zusammen unter dieser Statue stehen dürfen, freundschaftlich verbunden. Gemeinsam machen wir ein Selfie. Im Hintergrund: Mama Ukraine, so nennen wir sie jetzt. Unsere ganz persönliche Drag Queen für die Woche. Happy Pride!

Nachmittags treffen wir die Organisation T-ema im Coffee House am Maidan. Roxana und Angelia warten schon vor dem Haus. Sie verziehen keine Mine, als wir ankommen. Auch die Tafel Schokolade, die wir ihnen zum Geschenk überreichen, weisen sie zurück. Wir betreten die Kaffeehauskette, suchen uns irgendwo in der Ecke einen Platz und bestellen Cappuccino und Torte Napoleon, ein altes Sowjektgebäck. Dann wird es schnell still, denn die beiden Frauen sprechen kein Englisch, wir kein Russisch und Barbara, die uns beim Übersetzen helfen könnte, hat sich verspätet. Mühsam beginnen wir eine Konversation. Angelia spricht immerhin Holländisch, aber das hilft uns auch nicht weiter. Und ich habe im Russischen nur Grundkenntnisse. Wie das persönliche Befinden ist, ob der Kaffee schmeckt und wie die Arbeit – das hat sich schnell erschöpft.

Als Barbara Grabski kommt – sie spricht nicht nur Russisch, sondern auch Holländisch (!) – entspannt sich die Münchner Delegation zusehends. Da sitzen wir nun, Naomi, Stefan, Thomas, ich und hören zu. Barbara übersetzt und wir erfahren: T-ema ist eine Trans-Organisation, die sich um die Belange von Transgendern kümmert, sie macht PR und Öffentlichkeitsarbeit für sie, berät und hilft weiter in rechtlichen Dingen. T-ema ist neben Insight die zweite wichtige Trans-Organisation in Kyiw, mit der Munich Kyiv Queer kooperieren möchte. Allein – die Bedarfslage ist nicht klar.

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Roxana und Angelia, zwei Transfrauen, erzählen von ihrer Arbeit. 20 Leute arbeiten ehrenamtlich für T-ema, in einem kleinen Büro außerhalb der Stadt. Geld verdienen sie keines. Ich erwähne, dass auch Munich Kyiv Queer ehrenamtlich unterwegs ist. Angelia lacht und fragt mich, wie viel ich verdiene. Ich wechsle irritiert das Thema. T-ema wünscht sich Unterstützung beim Ausfüllen von Förderformularen, am Arbeitsplatz, in der Beratung von Ärzten und der psychosozialen Betreuung von Klienten. Vage bleibt das alles und Angelia verspricht, eine Mail zu schreiben, in der sie alles zusammenfasst, auf Russisch wohlgemerkt. Wir könnten es in der Tat übersetzen und darüber mit TransMann, Viva TS und der Trans*konferenz in München in Austausch kommen. Wir sind trotzdem immer noch ratlos, als wir uns verabschieden. In zwei Stunden beginnt die Eröffnungszeremonie. Die wollen wir nicht verpassen.

Ein gutes Dutzend Polizisten steht vor der Kleinen Oper im Zentrum der Stadt. Die kleine Oper ist eigentlich keine Oper mehr, sie war es einmal. Die Stadt hat aus ihr eine Event-Location gemacht, ein kleines, rosa Gebäude der Jahrhundertwende inmitten von Verkehr und Glaspalästen. Stas begrüßt uns am Eingang. Es war immer sein Traum, hier einmal den KyivPride hinzubringen. „Aber die Stadtverwaltung hat am Ende immer eine gute Ausrede gefunden, uns fern von hier zu halten“, sagt er. Stanislav Mishchenko ist Mitglied im Organisationskomitee des KyivPride. Er kümmert sich um die Kommunikation mit den Partnern des Pride im In- und Ausland. Dieses Jahr hat es geklappt. An der Tür prüft die Security unsere Taschen, wir dürfen rein, nehmen Platz unter dem historischen Gewölbe. Die Atmosphäre ist angespannt, der Sicherheitsmaßnahmen wegen, die Spannung löst sich aber, als das Programm beginnt. Bald fühlen wir uns gut aufgehoben hier unter unseren Freundinnen und Freunden, den vielen Bekannten und unbekannten Gesichtern, alle verbindet ein wärmendes Band der Solidarität und Partnerschaft. Es ist eben alles anders dieses Jahr. Klar, es gibt auch in diesem Jahr wieder viele Reden, vom Organisationskomitee, eine Solidaritätsadresse aus den USA vom LGBT-Beauftragten der Regierung Obama, Randy Berry, auch von Munich Kiev Queer übrigens, Stefan Block stand auf der Bühne – das allein wäre schon bewegend genug. Doch: So heimelig, so familiär war die Eröffnungszeremonie beim KyivPride noch nie. Das mag an den Sicherheitsmaßnahmen liegen, dem unbedingten Willen der Behörden, das Land westwärts zu treiben, der Solidarität, die der KyivPride von allen Seiten erfährt. Es mag an diesem Ort liegen, an den Liebesliedern, die die offen lesbische Sängerin Agata Wiltschik mit Schmelz vorträgt. Organisierende wie Teilnehmende tragen eine Zuversicht, wie wir sie in Kyiw selten erlebt haben.

Gegen zehn Uhr verlassen die Polizisten das Haus, wir alle ziehen mit. Die Gegner des Pride, der Rechte Sektor, die Kirchen, haben sich fürs Erste nicht blicken lassen, aber das kann auch Taktik sein. Morgen sehen wir weiter.

[Conrad Breyer]

PRIDEBLOG Meine persönlichen Ukraine-Analysen

Die Münchner*innen sind wieder in Kyiw. Zum fünften Mal nun schon unterstützen wir, Lesben und Schwule aus der Münchner Community, unsere Freundinnen und Freunde vor Ort. Die haben in diesem Jahr einen wunderbaren Pride organisiert, mit einer Pride Week, die reich an bunten, kreativen und lehrreichen Events ist. Und einen Pride March, der so viel Unterstützung aus allen Schichten der Gesellschaft erfährt, dass man getrost von einer Zeitenwende sprechen kann. Im Fernsehen und in den U-Bahnen läuft eine Kampagne pro Pride, viele Politikerinnen und Politiker, Künstler*innen, Blogger, ja Soldaten stehen für Menschenrechte ein, die Gegner sind schwach. Wir Münchnerinnen und Münchner haben unseren Anteil an diesem Erfolg; wir beteiligen uns auch am Kulturprogramm. „Unsere persönliche Sicherheit dient der Entwicklung des Landes“ lautet grob übersetzt die Botschaft des diesjährigen KyivPride. Oder anders: Alles wird gut!

So. Jetzt geht es los. Mein erster Blog überhaupt. Ich will Euch von meinen Eindrücken aus Kiew berichten. Es ist das erste Mal, dass ich in Kiew und der Ukraine bin.

Das Land und die Stadt empfangen mich am Samstag (4. Juni; Anm.d.Red.) mit allerbesten Voraussetzungen. Sonniges Juni-Wetter, Pick-Up durch Stas vom Flughafen, problemloses Einchecken in der Unterkunft, welches ich mir selbst über das Internet gesucht habe.

Und der erste Eindruck über Kiew ist sehr gut. Die Innenstadt ist sehr gepflegt und hat eine gute Infrastruktur. Die Architektur ist schön und beeindruckend und das Stadtbild mit den vielen Hügeln und den vielen Parks und Bäumen in den Straßen vermittelt eine schöne und heimelige Atmosphäre.

Im Supermarkt wird es allerdings schon schwieriger, wenn man wie ich, kein Kyrillisch entziffern kann. Mit lateinischen Buchstaben kann man in vielen anderen Ländern das eine oder andere der Inhaltsangaben entziffern und verstehen. Vor dem Milchregal wusste ich nicht, was nun Milch, Sahne, Joghurt oder sonstiges Milchprodukt ist. Die vermeintliche Milchtüte mit der Kuh auf grüner Weide entpuppte sich dann daheim als Kefir.

Viele Straßennamen und auch die Metrostationen sind aber glücklicherweise auch in lateinischen Buchstaben geschrieben. Da fällt einem die Orientierung leichter. Trotzdem ist es eine besondere Erfahrung, sich in einem Land aufzuhalten, in dem man – auf den ersten Blick – die Schrift nicht lesen kann. „Lost in Kyiv“ zu sein, muss man aber trotzdem nicht befürchten.

Ja, Furcht.. Muss man die Teilnahme am Pride March fürchten? Im Vorfeld der letzten Tage gab es über unterschiedliche Medien schon viele fürchterliche Nachrichten, nachdem aus rechten Kreisen ein Blutbad angekündigt wurde. Mit diesem mulmigen Gefühl hat meine Reise begonnen.

Umso überraschender und erfreulich ist allerdings der Eindruck der letzten Tage in Kyiw. Viele der ukrainischen Gesprächspartner sind positiv gestimmt. Es herrscht bei den Pride-Vorbereitungen eine andere Atmosphäre als in den vergangenen Jahren. Es sind erste Anzeichen eines sich beginnenden Wandels zu spüren.

In 2015 hat Präsident Petro Poroschenko erstmals öffentlich das Recht der LGBT-Community auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit unterstützt.

Im Rahmen der Annäherung an die EU und die in Aussicht stehende Visafreiheit hat das ukrainische Parlament mittlerweile ein Anti-Diskriminierungsgesetz für das Arbeitsrecht beschlossen, was auch LGBT mit einschließt. Ein Gesetz an sich ändert zwar noch nicht die Einstellung in der Bevölkerung und den Mitarbeiter*innen in den Behörden. Es ist aber ein erster Schritt.

Die Annexion der Krim und der Krieg mit Russland haben auch indirekte Auswirkungen auf die LGBT-Bewegung. In der Ukraine gibt es dadurch eine starke Bewegung gegen Russland. Man will sich von Russland abgrenzen. Gerade weil Russland mit seinen Anti-Homo-Propaganda-Gesetzen einen restriktiven Kurs gegen LGBT fährt, gibt es in der Ukraine erste Anzeichen, selbst aus manchen Bereichen der rechten Szenen, dies nicht mehr vordergründig zu übernehmen, weil man ja nicht als ein Unterstützer von Russland dastehen möchte. Diese Abgrenzung führt auch bis in die ukrainisch-orthodoxe Kirche hinein, die sich von der russisch-orthodoxen Kirche abgrenzt und die kirchliche Propaganda gegen LGBT nicht mehr so intensiv wie früher in den Vordergrund stellt. Man kann dies ja kaum laut denken, aber Putin scheint der ukrainischen LGBT-Bewegung derzeit viel zu helfen.

Und wer hätte es gedacht: Der ESC Eurovision Song Contest ist doch politisch! Indirekt sozusagen.

Es ist ja allgemein bekannt, dass der ESC sich in den vergangenen Jahren zum Gay-Happening entwickelt hat. Und nun, nach dem Sieg von Jamala, der ESC in 2017 in Kyiw?!

Da können es sich die Stadtverwaltung und die Regierung der Ukraine nicht leisten, wenn vom KyivPride 2016 Bilder eines Blutbads um die Welt gehen. Die Organisator*innen des KyivPride berichten von einer ganz anderen Basis und Zusammenarbeit mit der Polizei und den örtlichen Behörden als in den Jahren zuvor. Am kommenden Donnerstag wird es erstmals im Vorfeld des Pride March eine Pressekonferenz der Kyiwer Polizei geben.

In früheren Jahren wurden Plakate für den KyivPride in der U-Bahn zerstört oder schwarz übermalt. In diesem Jahr sind bisher fast alle Werbeflächen unbeschädigt geblieben.

All das sind Anzeichen (oder auch nur Hoffnungen), dass sich doch langsam in der Ukraine etwas ändert.

Wichtig ist vor allem die Präsenz, Sichtbarkeit und das immer und immer wieder Einfordern des Rechts auf Demonstration und die Einhaltung der Menschenrechte.

Demokratie ist ja nicht, dass die Mehrheit bestimmt, wie sich Minderheiten verhalten sollen und behandelt werden. Demokratie ist, dass sich die Mehrheit darum kümmert, dass Minderheitenrechte wahrgenommen und geschützt werden!

Interessant ist hierbei ein weiterer Bezug zu Jamala und den Sieg beim ESC mit dem Lied des Titels „1944“. Überall in der Stadt hängen Plakate für Ausstellungen und Dokumentationen unter dem Motto „1944“, dem Jahr, in dem die Minderheit der Krim-Tataren durch das sowjetische Stalin-Regime deportiert wurde. Noch nie vorher wurde in der Ukraine eine Minderheit, deren Leiden und deren Schutz, so in der Öffentlichkeit thematisiert. Auch wenn es nicht mit LGBT vergleichbar ist, so ist es doch ein Ansatz in der Wahrnehmung und im Umgang mit Minderheiten. Das gesellschaftliche Klima scheint erste, zarte Pflänzchen von Veränderung zu zeigen.

Hoffentlich reden wir uns alle in Kyiw die Situation mit diesen Eindrücken nicht schön und können nach dem Pride March am kommenden Sonntag wirklich von einem „Happy Pride“ sprechen. Der MKQ-Blog wird weiter berichten.

[Thomas Kaiser, Mitglied von Munich Kyiv Queer]

BLOG CREATIVE PROTEST ON TOUR Krivyi Rih

Auf Einladung der Gay Alliance Ukraine sind sie unterwegs, um Politik zu machen, Politik mit einfachen, kreativen Mitteln, die nicht teuer sind und Spaß machen. Naomi Lawrence, Künstlerin aus München, hat das Konzept dafür entwickelt, für die Creative Protest Workshops, die erstmals auf Tour gehen durch die Queer Homes der Ukraine. Die Queer Homes – das sind Kultur- und Kommunikationszentren für LGBTIQ, die die Gay Alliance Ukraine im ganzen Land betreibt. Begleitet wird Naomi von Ania Shapiro, einer amerikanischen Menschenrechtsaktivistin aus Berlin, die wie Naomi Lawrence Teil von Munich Kyiv Queer ist. Mila und Vera, zwei ukrainische Filmemacherinnen, zeichnen das Ganze mit ihrer Kamera auf. Am Ende soll ein Dokumentarfilm entstehen. Ein deutsch-ukrainisches Gemeinschaftsprojekt, eine Herzensangelegenheit für alle.

Die Zugfahrt nach Krivyi Rih dauert nur sechs Stunden. Ich bin erleichtert. Das Fenster im Abteil lässt sich öffnen – aber nicht mehr schließen. Es wird eine windige Fahrt.

Am Bahnhof haben wir Mühe, die Taxifahrer abzuschütteln, die uns ihre Dienste zu überteuerten Tarifen anbieten. Danach aber präsentiert sich die Stadt viel hübscher, als ich es erwartet hatte. Es gibt viele Grünanlagen mit Blumen und gepflegtem Rasen. Diese Stadt scheint mehr Geld zu haben als Saporischschja.

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Unser Hotel ist nicht weit vom Queer Home entfernt. Um 18 Uhr kommt, wie verabredet, Boris, um uns abzuholen. Im Queer Home angekommen treffe ich den Koordinator Vadim. Ich freue mich sehr, denn auch ihn kenne ich bereits aus München, wo er dieses Jahr für das Volunteer Training von Munich Kyiv Queer und Gay Alliance Ukraine war.

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Im Queer Home sitzen bereits einige Leute, die für den Workshop gekommen sind.

Die Stimmung ist hier deutlich anders als in Odessa und Saporischschja, viel reservierter. Dieses Mal übersetzen Ania, Vitalik und später auch Ludmila für mich. Aber ich habe Mühe, den Leuten ein Lächeln abzuringen. Es ist harte Arbeit, sie aus ihrer Deckung zu locken. Aber bei den kreativen Übungen machen sie bereitwillig mit. Das ist eine Konstante in allen Queer Homes: Alle sind gerne kreativ und sprechen auch gerne über ihre Bilder. Bei der Übung „What are you passionate about?“ gibt es, wie meist, unterschiedlichste Themen. Tier- und Umweltschutz, LGBTIQ und auch Persönliches. Ein Mädchen erzählt, dass sie sich große Sorgen macht wegen ihres Bruders, der wahrscheinlich zur Armee muss. Das ist das erste Mal während der Creative Protest Tour, dass der Krieg in der Ukraine direkt angesprochen wird. Und es ist ein Paradebeispiel für die Schutzhaltung, die viele Menschen einnehmen müssen, um trotz der vielen Schwierigkeiten zu überleben, mit denen sie tagtäglich konfrontiert sind. Die Probleme, die so überwältigend sind, dass sie ein Gefühl der Ohnmacht erzeugen, werden so gut es geht weggedrückt. Nur wenn eine persönliche Betroffenheit dazu kommt, bricht diese Konstruktion zusammen. Es ist keine Gleichgültigkeit, sondern ein Überlebensmechanismus.

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Während meiner Bildershow mit Beispielen von kreativem Protest kommt Bewegung in die Gruppe. Es wird nachgefragt und kontrovers diskutiert. Aber es ist schon sehr spät und die Konzentration lässt bei allen nach. Deshalb schlägt Vadim vor, den Workshop zu verkürzen und mit der Planung der Flashmobs zu beginnen. Ich bin gespannt was angesichts der Müdigkeit in den Gesichtern noch an Ideen zustande kommt. Doch innerhalb von 30 Minuten gibt es nicht nur eine konkrete Idee, sondern auch einen genauen Zeitplan. Die Gruppe ist extrem effektiv. Sie wollen auf dem Trottoir vor einem Hochhauskomplex eine Botschaft schreiben: „Keep calm and go to KyivPride!“ Das ist für diese Gruppe genau das richtige Motto, denn viele sind besorgt, dass es beim Pride wieder zu Angriffen von Rechtsradikalen und Hooligans kommen wird so wie im vergangenen Jahr.

Am nächsten Tag ist die Stimmung ganz anders. Denn es sind mehr Leute da als am Vortag. Prima! Als erstes singt uns der Chor des Queer Home ein Ständchen. Ich bin gerührt. Der Chor besteht nur aus Männern. Und das in dieser harten Stadt! Es ist ein patriotisches Lied, dessen Text sie umgeschrieben haben.

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Alle sind sehr tatkräftig und aktiv. Die Leute wollen definitiv etwas machen. Die Vorbereitung dauert nicht lange, das Motiv ist schnell ausgedruckt und die Kreiden sind bereits besorgt. Wir laufen los und unterwegs erzählt mir Ela, die in dem Queer Home Monitoring macht, dass es letztes Jahr einen Überfall auf das Queer Home gegeben hat. Das Queer Home feierte in einem Café mit etwa 40 Gästen eine Party, als zirka 30 Männer in Camouflage-Anzügen kamen und den Raum nach Kindern durchsuchten. Sie fanden keine, aber es kam zu Schlägereien, bei denen drei Gäste verletzt wurden. Darunter auch Vadim, der eine schwere Gehirnerschütterung und eine Verletzung am Auge erlitt. Er musste längere Zeit im Krankenhaus behandelt werden und hat immer noch gesundheitliche Probleme deswegen. Am nächsten Tag wollten sie im Queer Home die Augenzeugenberichte auf Video aufnehmen, aber sie wurden erneut von etwa 20 Männern überfallen und die Einrichtung zum Teil zerstört. Wie üblich konnte die Polizei keinen homophoben Hintergrund erkennen und stufte die ganzen Geschehnisse als private Auseinandersetzung ein. Natürlich wurde bislang auch keiner der Angreifer verhaftet. Eli meinte, die Leute seien immer noch verängstigt und zum Teil auch traumatisiert.

Ich bin erschüttert. Am Vortag war davon nichts zu spüren gewesen. Die Leute schienen eher cool, fast ein bisschen teilnahmslos. Aber vielleicht ist das die adäquate Reaktion auf eine Situation, die so bedrohlich ist. Man kann nicht ständig in Angst leben, vor allem nicht, wenn die Gefahr so konkret ist. Denn das Leben ist schon hart genug. Die wirtschaftliche Lage in der Ukraine ist desolat und Krivyi Rih ist ein rauhes Pflaster. Schon zu Sowjet-Zeiten war die Stadt berüchtigt. Es ist die zweitlängste Stadt der Welt, 130 km lang. Sie besteht aus einer Aneinanderreihung verschiedener sozialer Bevölkerungsgruppen, die nebeneinander und nicht miteinander leben. Mienen und Metallindustrie, viel Kriminalität und viele Drogen. Die gepflegten Grünanlagen täuschen, dies ist kein guter Ort zum Leben.

Ich frage Eli, wie es sein kann, dass trotz dieser Vorfälle so viele zum Flashmob gekommen sind. „Sie sind es einfach leid, unsichtbar zu sein“, ist ihre Antwort.

Als wir an unserem Platz ankommen, macht sich Betriebsamkeit breit. Alle schnappen sich eine Kreide, manche zeichnen vor und andere malen die Buchstaben mit Farben aus. Die Stimmung ist konzentriert und fröhlich zugleich. Im Team geht es erstaunlich schnell. Eine halbe Stunde etwa dauert es, bis wir unsere riesige Botschaft auf den Fußweg gemalt haben. Wir lachen viel, denn das Malen mit Kreide bewirkt, dass wir uns wie kleine Kinder fühlen. Der Spaß vertreibt die Angst. Am Schluss machen wir wieder viele Fotos; niemand scheint es eilig zu haben, von hier weg zu kommen.

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Aber wir wollen weiter, denn inzwischen ist in jeder Stadt ein Foto mit unserem Regenbogenschirm und einer Statue ein Muss. Schon am Vortag hatten wir in einem Park einen Kosaken mit seinem Pferd gesehen, dem etwas Abwechslung gut tun würde. Es ist immer wieder erstaunlich, was für einen großen Unterschied so ein kleiner Farbtupfer macht

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Ganz in seiner Nähe entdecken wir dann noch ein trauriges Ehepaar, welches dringend Aufmunterung braucht. Wir helfen, wo wir können…

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Das letzte Happening ist bei unserem Hotel. Dort gibt es einen kleinen Schrein. Für den haben wir ein Schild vorbereitet: „Pray and go to KyivPride“ Jeweils zwei von uns gehen davor auf die Knie. Dies ist nicht nur ein Seitenhieb an die vielen Fundamentalisten, die vor und während des Pride Sturm gegen uns laufen. Es ist auch durchaus ernst gemeint. Viele in der LGBTI-Community sind gläubig und etliche tragen ein Kreuz um den Hals. Sie müssen damit leben, dass sie an einen Gott glauben, dessen Amtsträger auf Erden eine bigotte Hetzjagd gegen sie betreiben.

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Die orthodoxe Kirche hier hat Geld und Macht. Sie ist eine rückwärtsgewandte Institution. Deshalb hat sie Angst vor Wissen und Aufklärung, denn auf eine moderne und weltoffene Gesellschaft ist diese Kirche nicht eingerichtet. Sie sind Vertreter eines überkommenen und extrem patriarchalen Systems. Deshalb ist Veränderung ihr Feind. Aber auch sie kann die Zeit nicht aufhalten.

Ich hätte gerne mehr von den 130 km dieser Stadt gesehen, gerade mal 40 Stunden waren wir hier. Doch am Abend sind wir schon wieder am Bahnhof und warten auf den Nachtzug zu unserer letzten Station. Kyiw wir kommen!

[Naomi Lawrence]

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BLOG CREATIVE PROTEST ON TOUR Das Wunder von Saporischschja

Auf Einladung der Gay Alliance Ukraine sind sie unterwegs, um Politik zu machen, Politik mit einfachen, kreativen Mitteln, die nicht teuer sind und Spaß machen. Naomi Lawrence, Künstlerin aus München, hat das Konzept dafür entwickelt, für die Creative Protest Workshops, die erstmals auf Tour gehen durch die Queer Homes der Ukraine. Die Queer Homes – das sind Kultur- und Kommunikationszentren für LGBTIQ, die die Gay Alliance Ukraine im ganzen Land betreibt. Begleitet wird Naomi von Ania Shapiro, einer amerikanischen Menschenrechtsaktivistin aus Berlin, die wie Naomi Lawrence Teil von Munich Kyiv Queer ist. Mila und Vera, zwei ukrainische Filmemacherinnen, zeichnen das Ganze mit ihrer Kamera auf. Am Ende soll ein Dokumentarfilm entstehen. Ein deutsch-ukrainisches Gemeinschaftsprojekt, eine Herzensangelegenheit für alle.

15 Stunden im Zug sind nie angenehm, aber eigentlich war’s nicht so schlimm bis auf die Fenster, die sich nicht öffnen ließen, das war echt stickig. Die Strecke ist gar nicht so lang und früher hat es auch nicht so lange gedauert. Aber Saporischschja ist sehr nah an der roten Zone, also dem Teil der Ukraine, in dem es Kampfhandlungen gibt. Deshalb wird das Gebiet weiträumig umfahren und das dauert.

Wir waren vorgewarnt: Saporischschja, eine Stadt, in der es außer Industrieanlagen eigentlich nicht viel gibt. Sauren Regen vielleicht. Ha, ha!

Als wir Montag früh um 5.40 Uhr am Bahnhof eintreffen, bin ich verwundert. Wo sind die Industrieanlagen? Nun gut, die kommen schon noch. Wir fahren erstmal im Taxi ins Hotel. Ich bin erstaunt, wie weit diese Stadt ist, dabei hat sie gar nicht so viele Einwohner, offiziell 700 000 mit den Flüchtlingen aus dem Osten aber deutlich mehr. Um 11.00 Uhr kommen Rostik und Sascha und machen eine kleine Stadtführung mit uns. Sascha war 2015 für die Ehrenamtsfortbildung von Munich Kyiv Queer und Gay Alliance Ukraine in München. Es ist schön, ihn wiederzusehen.

Diese Stadt ist so anders als Odessa oder Kyiw, sie ist so weitläufig, aber irgendwie auch zusammenhangslos. Viel grün aber, auch viel grau. Wir überqueren die Hauptstraße Soborny, es ist der längste Boulevard Europas – zwölf Kilometer lang. Ich bin beeindruckt, aber weit und breit keine Industrieanlagen…

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Auf dem Rückweg fängt es plötzlich an, sintflutartig zu regnen. Wir flüchten unter das Dach einer Bushaltestelle. Ich erkundige mich nach dem sauren Regen in der Stadt. Werden mir wirklich die Haare ausfallen, wenn sie nass werden?  Rostik lacht. Nein, Saporischschja gehört zwar zu den Städten mit der höchsten Umweltbelastung in der Ukraine, aber der Regen ist nicht das Problem, eher das Grundwasser.

Mein Workshop beginnt um 18.00 Uhr bei Gender Z. Die Organisation kooperiert mit der Gay Alliance Ukraine, auch Gender Z hat so ein Queer Home wie die Gay Alliance Ukraine, ein Kommunikations- und Kulturzentrum für LGBT . Ein offener Raum und offene Angebote und viele Möglichkeiten für die Gäste, selber aktiv zu werden. Das Angebot heute ist mein Creative Protest Workshop. Viele Leute kommen, vor allem Teenager. Rostik und Sascha sind mit ihren etwa 30 Jahren schon Vaterfiguren. Ein Mädchen ist mit ihrer Mutter gekommen, die Mutter unterstützt sie.

Ich bin begeistert, alles ist da: Papier, Farben, Pinsel, ein Beamer und über 20 Teilnehmer*innen. Weil alle pünktlich gekommen sind, beginnen wir auch pünktlich. Rostik übersetzt für mich, anders als in Odessa, sprechen hier nur wenige Englisch.

Es ist heiß und im Nu auch stickig wegen der vielen Menschen im Raum. Trotzdem hören alle aufmerksam zu und machen mit. Sie malen, drücken sich aus, stellen und beantworten Fragen, entwickeln Ideen für Flashmobs. Am Ende des Workshops gegen 22.00 Uhr sind es Rostik und ich die nicht mehr können. Unsere Köpfe qualmen, Sprechen und Denken fallen schwer. Aber das macht nichts, denn der Plan für den nächsten Tag steht schon: Um 9.00 Uhr zeigen Sascha und Rostik uns Chortyzia, die größte Insel im Fluß Dnjopre.

Es ist zum Teil ein Naturschutzreservat und zum Teil ein wunderschönes Naherholungsgebiet mit einem historischen Tartaren Dorf, welches vor Jahren für einen Film gebaut wurde und nun eine Touristenattraktion ist. Die riesige, steinerne Statue eines kräftigen Tartaren bringt uns allerdings auf andere Gedanken.

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Es ist heiß und im Nu auch stickig wegen der vielen Menschen im Raum. Trotzdem hören alle aufmerksam zu und machen mit. Sie malen, drücken sich aus, stellen und beantworten Fragen, entwickeln Ideen für Flashmobs. Am Ende des Workshops gegen 22.00 Uhr sind es Rostik und ich die nicht mehr können. Unsere Köpfe qualmen, Sprechen und Denken fallen schwer. Aber das macht nichts, denn der Plan für den nächsten Tag steht schon: Um 9.00 Uhr zeigen Sascha und Rostik uns Chortyzia, die größte Insel im Fluß Dnjopre.

 

Es ist zum Teil ein Naturschutzreservat und zum Teil ein wunderschönes Naherholungsgebiet mit einem historischen Tartaren Dorf, welches vor Jahren für einen Film gebaut wurde und nun eine Touristenattraktion ist. Die riesige, steinerne Statue eines kräftigen Tartaren bringt uns allerdings auf andere Gedanken.

 

 

 

Um 11.00 Uhr sind wir dann wieder bei Gender Z, denn um 12.00 Uhr kommen die ersten Leute, um die Flashmobs vorzubereiten. Andrew, ein Teilnehmer schickt mir noch eine neue Idee für einen Flashmob über Facebook. Sie beinhaltet viel Aktion und Öffentlichkeit – ich freue mich, über die Idee und die Begeisterung.

 

Um 12.00 beginnen wir mit der Vorbereitung der Flashmobs. Saporischschja hat in einem Park einen riesigen Regenbogen aus Kunststoff. Das ist natürlich eine Steilvorlage für uns. Wir werden einen entsprechend riesigen Hashtag malen: #ПідтримуюКиївПрайд2016 (#WirunterstützenKyivPride2016) Damit werden wir uns in den Regenbogen stellen. Das Transparent wird fünf Meter breit, das ist eine Herausforderung. Aber mit dem Beamer ist es nicht so schwer. Innerhalb einer Stunde haben wir es geschafft.

 

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Parallel wird ein zweiter Flashmob vorbereitet. Ein weiteres Objekt in Saporischschja soll unser Botschafter sein. Ein großes Herz eingerahmt von den Buchstaben I und ZP. „I love Zaporizhia“, eine Werbeaktion für die Stadt. Da fehlt eigentlich nur noch unser Hashtag mit dem Gruß an Kyiw drauf. Als wir wie geplant um 15.00 Uhr losgehen, sind wir wieder über 20 Leute. Niemand scheint ängstlich zu sein. Liegt das an dem Alter?

Der Regenbogen steht auf einer Anhöhe von der aus man den Dnjopre überblicken kann, den asphaltierten Platz darum herum, haben wir mehr oder weniger für uns. Hier haben wir kein Publikum. Einerseits ist das gut, denn das heißt, es kann auch keine Konfrontationen geben. Andererseits gibt es auch keine Kommunikation mit den Leuten. In diesem Fall ist das aber gewollt, denn die Aktion ist nicht interaktiv, sondern symbolisch als Unterstützung für den Pride gedacht. Es gab auch Ideen für interaktive Flashmobs, aber die müssen sorgfältig vorbereitet werden. Die Zeit hatten wir leider nicht. Die ganze Aktion dauert nicht lange, aber sie ist optisch sehr eindrucksvoll. Es ist ein Zeichnung der Unterstützung und Hoffnung auf einen friedlichen Pride.

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Danach ziehen wir zurück in die Stadtmitte. Wobei Stadtmitte das falsche Bild vermittelt, denn das Stadtzentrum erstreckt sich über fünf Kilometer entlang des Soborny-Boulevards. Wir gehen zu der Heart Clock einer großen Standuhr, vor der das „I Love ZP“-Herz steht. Hier ist deutlich mehr los, deshalb wird der Flashmob auch schneller durchgeführt. Wieder entsteht ein Bild des Optimismus und der Zuversicht. Man sieht dass die Teilnehmer/innen vor allem Spaß und nicht Angst haben.

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Was ist hier los in Saporischschja? Keine Industrieanlagen, keine Angst. Diese kleine und junge Community ist sehr eng und vertraut miteinander, ja, tatsächlich wie eine große Familie. Und der Grund für dieses Miteinander sind zweifellos Rostik und Sascha. Diese positive Energie geht von ihnen aus. Von außen betrachtet ist es offensichtlich, aber ich bin mir nicht sicher, ob sie selbst es wissen. Sie machen den Unterschied.

Eigentlich sind unsere Flashmobs nun zu Ende. Alle unterschreiben auf unserem Regenbogenschirm, der inzwischen eine Art Wanderpokal ist. Seine letzte Station wird Kyiw sein. Und wir? Niemand scheint so recht nach Hause gehen zu wollen, deshalb schlage ich vor, noch einen Abstecher zur Statue von dem Komponisten Michailo Glinka zu machen. Ihn hatte ich schon am Vortag gesehen und bemerkt, dass seine rechte Hand einen unsichtbaren Regenschirm zu halten scheint.
Alle wollen mit, inzwischen wundert mich nichts mehr.

Unterwegs wird allerdings klar, dass uns ein entscheidendes Utensil fehlt: der Verlängerungsstab. Zwar finde ich unterwegs noch einen einen Meter langen Stecken, aber als wir vor der Statue stehen, ist offensichtlich, dass der nicht ausreicht. Was tun?  Wir diskutieren, hochklettern? Zu gefährlich, das ist illegal und die Polizeistation ist gleich um die Ecke. Dann nimmt Andrew den jungen Alex auf seine Schultern. Das ist eine ziemlich wacklige Geschichte und bringt den Schirm nicht deutlich höher. Dann versuchen Rostik und Sergeij mit einem längeren Teilnehmer Räuberleiter zu machen. Aber der kneift. Also melde ich mich, denn ich bin eine der längsten in der Gruppe und habe keine Höhenangst. Es klappt, ich stehe auf ihren Händen und halte den Schirm nach oben. Ich schaffe es zwar nicht, ihn in seiner Hand zu platzieren, aber immerhin guckt er über seine Schulter. Optisch ist das Ergebnis zwar nicht so überzeugend, aber gruppendynamisch war es der Hit: Problem – Lösung – Teamwork und alles, aufgrund der Nähe zur Polizeistation mit viel Adrenalin.

Aber wieder geht alles gut, keine Polizei, keine Aggression, obwohl viele Leute da sind. Wir erweitern unsere eigenen Grenzen und erkunden die Grenzen der Gesellschaft. Sichtbarkeit und Kommunikation. Die LGBTIQ-Community braucht Sichtbarkeit, damit die Gesellschaft überhaupt merkt, dass es sie gibt. Und dann ist es wichtig, miteinander zu kommunizieren, damit Einstellungen sich ändern können. Das ist ein Prozess, der auf individueller und auf kollektiver Ebene stattfindet. Am nächsten Tag fahren wir weiter nach Kryvvj Rih, wieder eine Industriestadt. Mal sehen, ob es da Industrieanlagen gibt. [Naomi Lawrence]

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BLOG CREATIVE PROTEST ON TOUR Odessa

Auf Einladung der Gay Alliance Ukraine sind sie unterwegs, um Politik zu machen, Politik mit einfachen, kreativen Mitteln, die nicht teuer sind und Spaß machen. Naomi Lawrence, Künstlerin aus München, hat das Konzept dafür entwickelt, für die Creative Protest Workshops, die erstmals auf Tour gehen durch die Queer Homes der Ukraine. Die Queer Homes – das sind Kultur- und Kommunikationszentren für LGBTIQ, die die Gay Alliance Ukraine im ganzen Land betreibt. Begleitet wird Naomi von Ania Shapiro, einer amerikanischen Menschenrechtsaktivistin aus Berlin, die wie Naomi Lawrence Teil von Munich Kyiv Queer ist. Mila und Vera, zwei ukrainische Filmemacherinnen, zeichnen das Ganze mit ihrer Kamera auf. Am Ende soll ein Dokumentarfilm entstehen. Ein deutsch-ukrainisches Gemeinschaftsprojekt, eine Herzensangelegenheit für alle.

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Eigentlich hatte ich nicht erwartet, so bald wieder in Odessa zu sein. Bei meinem letzten Aufenthalt zum Pride im August 2015, war die Stimmung ganz anders, sehr angespannt und explosiv. Diesmal spüre ich wieder die wunderbar entspannte, mediterrane Atmosphäre in Odessa, die ich mit dieser wunderschönen, maroden Hafenstadt verbinde. Arm, aber sexy.

Alles läuft wie am Schnürchen: Das ganze Team der Creative Protest Tour ist in einem schönen Hotel untergebracht. Ania Shapiro, unsere amerikanische  Menschenrechtsaktivistin aus Berlin, Mila und Vera, die erfahrenen Filmemacherinnen aus Kyiw, Vitali, Koordinator des Queer Home in Shytomyr und ich selbst, Naomi Lawrence. Die CP Tour wird dokumentiert, wir wollen sichtbar machen, was in der Ukraine passiert. Dass trotz Krieg und wirtschaftlicher Misere der Kampf um Menschenrechte weitergeht. Denn wo es keinen Schutz für Minderheiten gibt, gibt es letztlich für niemanden Sicherheit. Und ohne Sicherheit kann kein Land gedeihen, gesellschaftlich nicht aber auch wirtschaftlich nicht.

Als wir am nächsten Tag bei strömendem Regen im Queer Home eintreffen, wo der Creativ Protest Workshop stattfinden soll, ist alles bestens vorbereitet.

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Zu meiner Begeisterung kommen noch mehr als die angemeldeten neun Leute. Der Workshop läuft bestens. Die Teilnehmer*innen sind aufmerksam und konzentriert. Beinahe ohne Unterbrechung von 13 Uhr bis 19 Uhr hören sie aufmerksam zu, diskutieren und entwickeln Ideen. Am Ende sind wir aufgekratzt, wir wollen Botschaften an Kyiw senden und sichtbar machen, dass der KyivPride die ganze Ukraine betrifft.

Obwohl der Workshop lang und anstrengend war, ist es keine Frage, dass alle am nächsten Tag wieder kommen, um an den Flashmobs teilzunehmen.

Odessa meint es gut mit uns. Der neue Tag begrüßt uns mit einem strahlend blauen Himmel und der für diese Stadt so typischen Hitze. Keine Sorgen mehr wegen der empfindlichen Kameras und Mikrofone.

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Das Motto des KyivPride lautet dieses Jahr: „Безпека людини – розвиток країни“, etwa: „Die Sicherheit der Menschen dient der Entwicklung des Landes“.

Das klingt erstmal nicht spektakulär, doch letzten Endes bedeutet das für die LGBTIQ-Community in der Ukraine, es geht ums Eingemachte. Keine politischen Forderungen mehr nach Gleichberechtigung, sondern existenzielle Bedürfnisse.

Die Ukraine befindet sich im Krieg. Für alle Menschen, aber insbesondere die LGBTIQ-Community hat sich die Lage verschlechtert. Für diesen Wunsch haben wir ein ebenso einfaches, wie schönes Symbol gefunden: einen Regenschirm in den Farben des Regenbogens. Schutz und Vielfalt in einem. Diesen Regenschirm werden wir als Reisegruppe getarnt in aller Öffentlichkeit an verschiedenen Denkmälern und historischen Orten platzieren.

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In Deutschland würden wir uns keine Gedanken über so ein Happening machen. Aber in der Ukraine ist das Regenbogensymbol „dank“ der Negativ-Propaganda von Russland inzwischen sehr bekannt und negativ konnotiert. Menschen, die erkennbar LGBTIQ sind, werden zur Zielscheibe für Aggressionen.

Aber wir sind gut vorbereitet. Wir wissen, wie wir uns verhalten, falls wir auf aggressive oder gewaltbereite Menschen treffen: Ruhig, höflich und deeskalierend.

„We’re nice people!“, ist unsere Devise. Unsere Ziele für den Tag sind klar gesetzt: Wir wollen eine solidarische Botschaft nach Kyiw senden und: „We want to have fun!“

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Also ziehen wir zu zehnt los mit unserem Regenbogenschirm, unserem Rainbow-Tours-Schild und unserem drei Meter langen Verlängerungsstab für hohe Statuen.

Viktor ist unser Tour Guide, fast ohne Unterbrechung erzählt er fröhlich Geschichten über Odessa, die teils wahr, teils frei erfunden sind. Hauptsache reden. Auch als zwei junge Männer auf uns zu kommen und skeptisch fragen was Rainbow Tours sei, lässt er sich nicht aus dem Konzept bringen. Ja, wir machen Fotos für das Unternehmen Rainbow Tours. Wir besuchen mit dem Regenschirm bekannte Plätze und machen Fotos, denn sie möchten wissen, wo wir überall waren. Sie sind verwundert aber bleiben freundlich. Gut für uns.

Giora, der schon für den Pride letztes Jahr die historische Sightseeing Tour geplant hatte, hat die Runde vorbereitet. Und so ziehen wir im Herzen Odessas von einer Touristenattraktion zur anderen und platzieren unseren Schirm mit Hilfe unseres Verlängerungsstabes in den Händen vieler verschiedener Statuen, die scheinbar nur darauf gewartet haben, ihn halten zu dürfen. Allen tut dieser Farbklecks sichtbar gut. Niemand stört uns, man lässt uns gewähren, als ob Rainbow Tours eine ganz normale Reisegruppe wäre und auch das Anbringen eines Schirms an Statuen in der Ukraine ganz alltäglich wäre.

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Der Höhepunkt ist natürlich die Statue des Duke von Armand Emmanuel du Plessis, duc de Richelieu, der über die Potemkinsche Treppe hinab auf den Hafen und hinaus aufs Meer blickt. Dies ist die bekannteste Sehenswürdigkeit Odessas mit der höchsten Touristendichte. Hier fanden auch letztes Jahr Flashmobs statt, nachdem der Pride verboten worden war. Damals war überall Miliz. Aber dieses Jahr ist alles friedlich. Unbehelligt bringen wir unseren Regenschirm an und posen ein bisschen. Dann machen wir noch ein Gruppenfoto auf den Stufen und weil sogar das Wetter auf unserer Seite ist öffnet sich danach wie auf Kommando der Himmel und ein Wolkenbruch entlädt sich über unseren Köpfen. Eine willkommene Abkühlung und Perfect Timing! Hätte der Regen zehn Minuten früher begonnen, hätten wir unsere Rainbow Tour nicht mit diesen wunderbaren Fotos abschließen können.

Zusammen gehen wir zurück zum Queer Home. Die Stimmung ist entspannt und heiter. Es war ein Austesten. Wie sichtbar kann die LGBTIQ-Community in Odessa sein, wie viel Raum darf sie sich nehmen? Das Ziel war es, zusammen Spaß zu haben und eine unterstützende Botschaft in Richtung KyivPride zu schicken.

Berichte und Fotos von Übergriffen gegen LGBTIQ gibt es genug. Wir wollen eine andere Realität!

Es ist ein Balanceakt, die Grenze zu finden zwischen Präsenz und Provokation in einer Gesellschaft, die so stark homophob ist wie die ukrainische. Aber es ist wichtig, an diese Grenzen zu gehen, sonst werden wir unsichtbar. Und wenn wir unsichtbar sind kann die Gesellschaft nicht erfahren, dass wir natürlich ein Teil der Gesellschaft sind und es schon immer waren.

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Montag geht es weiter nach Saporoschje, einer Industriestadt, nicht so weit von der roten Zone, dem Teil des Landes, für das eine Reisewarnung besteht, weil dort gekämpft wird. 15 Stunden werden wir mit dem Zug dorthin brauchen. Wir sind alle gespannt.

[Naomi Lawrence]