Situation in der Ukraine

Die LGBTIQ*-Community in der Ukraine ist sichtbarer denn je – eigentlich eine Erfolgsgeschichte. Hass und Gewalt aber setzen Lesben, Schwulen, Bi, Trans*, Inter* und Queers (LGBTIQ*) zu. Die politische Klasse verharrt in Untätigkeit. Die Regierung schützt öffentlichkeitswirksam Veranstaltungen der Community wie den KyivPride, tut aber ansonsten wenig für die Bürger- und Menschenrechte der Betroffenen. Und das obwohl Rechtsradikale mehr denn je gegen sexuelle Minderheiten mobilmachen.

Exakt 47 Seiten umfasst der Bericht, den die Kyjiwer Menschenrechtsorganisation Nash Mir 2021 veröffentlicht hat. In allen Details führt er auf, wie es um die Situation von Lesben, Schwulen, Bi, Trans*, Inter* und Queers in der Ukraine steht: Wie sich Justiz, Politik, Medien, Kirchen und Gesellschaft dazu positionieren, wo es zu Diskriminierung und Gewalt gekommen ist, und natürlich spielt auch das Leben der sexuellen Minderheiten in den besetzten Gebieten eine Rolle. Das Ergebnis ist schnell zusammengefasst: Der Reformkurs der Ukraine ist in diesem Bereich ins Stocken geraten und gewaltbereite ultrarechte Splittergruppen bestimmen die Agenda.

Tatsächlich attackieren Organisationen wie Nationaler Korpus, Rechter Sektor, Tradition und Ordnung, Trysub (Dreizack), Karpatska Sitsch, Sokil (Falke), Bratstwo (Bruderschaft) und wie sie alle heißen immer häufiger öffentliche Veranstaltungen und Einrichtungen der LGBTIQ*-Community. Die Präsenz lokaler und nationaler Medien macht solche Aktionen für die Angreifer*innen attraktiv, lassen sich die eigenen Botschaften vom gesunden Volk, der traditionellen ukrainischen Familie und dem Schutz vor westlicher Dekadenz doch so noch besser unters Volk bringen. Rechte Parteien mögen im Parlament der Ukraine, der Werchowna Rada, keine Rolle spielen, sie haben auch keinen großen Einfluss auf Politik und Gesellschaft; auf der Straße sind sie indes sehr präsent. Und Homo- und Trans*-Phobie haben sie neuerdings zu ihrem Lieblingsthema erkoren.

Angriffe von der Straße

Um den 17. Mai herum gibt es immer wieder Vorfälle, die sich gegen Veranstaltungen zum Internationalen Tag gegen Homo-, Bi-, Trans- und Interphobie (IDAHoBIT) richten. In der ganzen Ukraine finden dazu – von den Coronajahren einmal abgesehen – traditionell kleinere Events wie Flashmobs, Demonstrationen, Kundgebungen und Diskussionen statt. In Saporischschja wurde bei einer Zusammenkunft der örtlichen LGBTIQ*-Organisation „Gender Z“ vor zwei Jahren ein Feuerwerkskörper in die Menge der Protestierenden geschleudert; verletzt wurde ein Polizist. Die Gerichte haben den Mann inzwischen verurteilt.

In Tscherniwzi haben Rechtsradikale und Gläubige vor zwei Jahren das Equality-Festival blockiert, zu dem die LGBTIQ*-Organisation Insight aus Kyjiw regelmäßig an einen anderen Ort der Ukraine lädt. Ende vorvergangenen Jahres war es das Coming-Out-Festival der NGO Sphere in Charkiw. Aus Sicherheitsgründen wurde die Veranstaltung abgesagt, die Polizei evakuierte die Teilnehmer*innen , ließ die Rechten aber gewähren.

In Krywyj Rih überfallen Rechtsradikale regelmäßig das Queer Home der Stadt, eines von mehreren Kommunikations- und Kulturzentren für die Community, die von der LGBTIQ*-Organisation Gay Alliance Ukraine betrieben werden. Der Leiter der Organisation wurde schwer verprügelt. Seinen Namen will er lieber nicht öffentlich genannt wissen. „Sieg Heil haben sie geschrien und Tod den Päderasten“, erzählt er. Die Polizei hat die Täter nicht gefasst.

Und selbst im Pandemiejahr 2020 rückten die hasserfüllten Gegner*innen einer liberalen Gesellschaftsordnung von ihrer Agenda nicht ab. Wo sie konnten, waren sie zugegen. Beim OdesaPride, der im August stattfand, haben sie die Menge der Demonstrierenden brutal aufgerieben; die Polizei schaute lange nur zu. Die Prides in Charkiw, ein Autokorso, und Saporischschja immerhin liefen friedlich ab.

Beten für die gottgewollte Ordnung

Unterstützung erfahren die Rechten oft von religiösen Fundamentalist*innen wie etwa von der Organisation „Liebe gegen Homosexualismus“. Die Fundamentalist*innen schreiben ausdauernd homophobe Petitionen. Inhaltlich dürften sie auf einer Linie mit den Kirchen des Landes liegen, die aber inzwischen lieber schweigen, wenn es um LGBTIQ*-Themen geht. Nur der Patriarch Filaret, ein prominenter Vertreter der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche, machte öffentlich gleichgeschlechtliche Ehen für das Coronavirus verantwortlich. Er erkrankte dann selbst daran.

Die meisten Eingaben richten sich gegen die Förderung „nichttraditioneller Familien“, also gegen so genannte Gay-Propaganda, vermeintlich um Minderjährige zu schützen, und erinnern insofern an die Gesetzeslage in Russland. In Russland gibt es seit 2013 ein Gesetz, das die „Propaganda von nichttraditionellen sexuellen Beziehungen“ verbietet, was zu einer Hatz gegen Homosexuelle geführt hat und bis heute zahlreiche Menschenrechtsverletzungen nach sich zieht.

Städte wie Poltawa, Ternopil und Iwano-Frankiwsk senden dann Beschwerden an die politische Führung in der Hauptstadt, mit der Aufforderung, „Gay-Propaganda“ zu unterbinden und die Diskriminierung sexueller Minderheiten im Gesetz festzuschreiben.

Gewalt gegen Minderheiten

Die derart geschürte Homo- und Trans*-Phobie führt immer wieder zu Diskriminierungen und Gewalt. Die Menschenrechtsorganisation Nash Mir dokumentiert in ihrem jüngsten Bericht Hunderte Fälle. Verbale und körperliche Übergriffe erleben Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender und Intersexuelle vermutlich fast täglich, wenn man davon ausgeht, dass nicht alle das Erlebte auch tatsächlich melden. Dabei spielen die Angst, sich vor der Polizei zu outen, und die Scham, Opfer zu sein, eine große Rolle. LGBTIQ* werden, so der Bericht von Nash Mir, verhöhnt und öffentlich diskreditiert – in der Schule, am Arbeitsplatz, beim Einkaufen. Besonders perfide gehen dabei Gruppen wie „Modnyi Prygowor“ vor, die schwule Männer über Datingportale gezielt zu einem ihrer Mitglieder nach Hause locken, sie dort dann zum Outing zwingen, manchmal schlagen und vergewaltigen, das Ganze filmen und ins Netz stellen.

Die Polizei in der Ukraine erfasst zwar offiziell Hasskriminalität aufgrund von Homo- und Trans*-Phobie, aber nur selten und meist widerwillig, sodass die Verfolgung solcher Taten schwierig ist. Vor dem Gesetz gelten so genannte hate crimes weiterhin nicht als „besonders schwerwiegend“, was bei einer Verurteilung zu härteren Strafen führen könnte. In vielen Fällen diskriminiert die Polizei die Opfer selbst oder lässt kein großes Interesse an Fahndungserfolgen erkennen – auch wenn sich die Situation durch die staatlich verordnete Schulung vieler Polizeikräfte in Menschenrechtsfragen in diesem Bereich schon in Teilen verbessert hat.

In den vergangenen Jahren haben immer wieder Runde Tische stattgefunden, an denen neben Menschenrechtler*innen und LGBTIQ*-Organisationen Mitarbeitende des Innenministeriums und der Polizei teilgenommen haben. Das Ziel: Bekämpfung von Hasskriminalität, Sicherheit bei öffentlichen LGBTIQ*-Veranstaltungen und ein respektvoller Umgang mit sexuellen Minderheiten.

KyivPride 2020 - Stunt vor der Mutterland-Statue. Foto: KyivPride

In den Augen der ukrainischen Zivilgesellschaft stellt sich die Politik – von Ausnahmen vor allem auf lokaler Ebene abgesehen – nicht entschieden genug gegen die Umtriebe der Rechten im Land. Die Regierung, sagen insbesondere LGBTIQ*-Aktivist*innen, halte sich nicht einmal an die eigenen Vorhaben. Dazu später mehr.

Sanfte Öffnung

Die Lage ist für Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender und Intersexuelle in der Ukraine umso unbefriedigender, als sich die Situation auf rechtlicher Ebene in den vergangenen Jahren eigentlich verbessert hat. Auch die Akzeptanz in Teilen der Bevölkerung hat zugenommen.

Das legt die jüngste Studie zum Thema nahe, „What Ukrainians Know and Think About Human Rights: Assessing Change (2016-2020)“ von der Ilko Kucheriv Democratic Initiatives Foundation. Im Vergleich zu 2016 ist die Zahl der Bürger*innen, die Toleranz als Grundwert betrachten, um 6 auf 31 Prozent gestiegen. Noch immer würden zwar 41,8 Prozent aller Befragten Rechte für LGBTIQ* gerne einschränken. Aber das sind 4,4 Prozent weniger als noch 2016. Grundsätzlich verstehen immer mehr Menschen, dass sexuelle Minderheiten besonders unter Diskriminierung leiden (26,3 Prozent).

„Tatsächlich erregen LGBTIQ*-Themen keine besonders starken Gefühle mehr in der breiten ukrainischen Bevölkerung“, sagt Andrij Krawtschuk, einer der Manager von Nash Mir. Die Menschen ließen durchaus mit sich reden, wenn es um sexuelle Minderheiten gehe. Das Land öffne sich.

Dafür dürfte – neben Aufklärungskampagnen – insbesondere die Pride-Bewegung verantwortlich sein. Seit 2012 haben einzelne Aktivist*innen aus Kyjiw, dann die Gay Alliance Ukraine und schließlich die Organisation KyivPride gemeinsam mit Amnesty International jedes Jahr versucht, einen Gay-Pride durchzuführen, in Deutschland bekannt als Christopher Street Day (CSD). Auf dem CSD demonstrieren Lesben, Schwulen, Bi, Trans* und Inter* – in Erinnerung an den Stonewall-Aufstand 1969 in New York – jedes Jahr für gleiche Rechte. Es handelt sich um eine Mischung aus Party und Politik. In der Ukraine freilich stehen politische Motive im Vordergrund.

Erfolgreiche Pride-Bewegung

2013 konnte noch unter Präsident Wiktor Janukowytsch zum ersten Mal ein Gay-Pride in Kyjiw stattfinden. 150 Leute demonstrierten außerhalb der Stadt, geschützt von der Polizei auch dank starker Beteiligung ausländischer Politiker*innen. 2019 waren es über 8000 Menschen, die mitten im Zentrum (!) vor der Taras-Schewtschenko-Universität für Menschenrechte marschierten, und beileibe nicht nur Vertreter*innen der LSBTI-Community. Die Gäste aus dem Ausland machten nur noch einen Bruchteil der Teilnehmer*innen aus. Tausende Beamt*innen schützten das Großereignis, denn selbstverständlich hatten radikale Gruppen ihr Kommen angekündigt. Sie drohten mit Blockaden und Gewalt, am Ende blieb es bei friedlichen Protesten. Jedes Jahr gab es nach dem Pride Verletzte, wenn die Rechten zur „Safari“ durch die Stadt zogen – 2019 nicht. 2020 fand der Pride pandemiekonform rein virtuell statt.

Der KyivPride ist durchaus umstritten: Eine Mehrheit der Kyjiwer*innen (57 Prozent) lehnt ihn laut einer Befragung des Marktforschungsinstituts Active Group vom April 2017 ab; 38 Prozent sind dafür. Vor ein paar Jahren allerdings wäre die Zahl der Befürworter*innen aber sicher noch deutlich niedriger ausgefallen.

Neben dem KyivPride haben andere LGBTIQ*-Organisationen angefangen, Events anzubieten: LIGA aus Mykolajiw etwa die Veranstaltungsreihe „Days of Equality and Pride“ in Mykolajiw, Odesa und Cherson, die LGBTIQ*-Organisation Insight das bereits genannte Equality-Festival. Die Gay Alliance Ukraine organisiert in Odesa und Krywwji Rih einen Pride, Gender Z in Saporischschja und Sphere einen solchen in Charkiw.

Viele Menschen unterstützen die Öffnung ihres Landes gegenüber sexuellen Minderheiten – allen voran Mütter von Lesben, Schwulen und Transgendern sowie Freund*innen der Demonstrierenden, aber auch einflussreiche Musiker*innen wie Iryna Bilyk und Jamala (Gewinnerin des Eurovision Song Contest 2016), Kunstschaffende, Blogger*innen und Abgeordnete. Auch Unternehmen wie das Frauenmodelabel „Who is it?“ und die Privat Bank unterstützen die Community. Generell wirkt die LGBTIQ*-Community der Ukraine inzwischen gut vernetzt in vielen Bereichen der Politik, Gesellschaft und Wirtschaft.

Menschenrechtspolitik: außen hui, innen pfui

Die Politik hat ein Interesse daran, diese Großveranstaltungen zu schützen, weil das Ausland zuschaut. Die Ukraine kann es sich nicht leisten, die EU als Partnerin zu verprellen, zu viel hängt wirtschaftlich und politisch davon ab, gerade jetzt. Und letztlich ist der offiziell LGBTIQ*-freundliche Kurs der Regierung auch eine Möglichkeit, sich von Russland abzugrenzen. Im umkämpften Donbass ist das Thema überhaupt nicht geregelt, auf der Krim gelten die russischen Gesetze gegen „Gay-Propaganda“. Im Grunde aber ist den meisten Politiker*innen das Thema herzlich egal.

Vielleicht deshalb zeigen sich Regierung und Parlament wenig motiviert, ihren eigenen Aktionsplan für Menschenrechte umzusetzen, den sie am 23. November 2015 selbst auf den Weg gebracht haben. Er sah bis 2020 umfassende Gesetzesvorhaben vor, und zwar unter anderem

Die Deadlines für die Gesetzesvorhaben sind inzwischen verstrichen. Immerhin hat die neue Regierung unter Präsident Vladimir Zelenskiy den Aktionsplan neu aufgelegt, bis 2023 verlängert und die Inhalte beibehalten. Dass sie deshalb bald umgesetzt werden, ist aber freilich mehr als unwahrscheinlich.

Die große Politik wartet also ab, während rechte (und auch religiöse) Aktivist*innen aktiv werden; für sexuelle Minderheiten stellen sie eine reale Gefahr dar. Die Rechten sind deutlich besser organisiert als früher, schaffen es, ihre – meist jungen – Anhänger*innen schnell zu mobilisieren und greifen an, wenn es geht. Kein öffentliches LGBTIQ*-Event ist vor ihnen sicher.

Wenig überraschend, dass die Rechten auch keine Fans feministischer Veranstaltungen und generell von Veranstaltungen zu Themen wie Gendergerechtigkeit und Gleichberechtigung sind. Die Überfälle haben in erschreckendem Maße zugenommen. Sie betreffen selbst Veranstaltungen, an denen die Polizei beteiligt ist wie die erwähnten Runden Tische.

Die Zukunft liegt im Westen

Wirklich ernst nimmt die Öffentlichkeit das Thema nicht, insbesondere große Teile der Politik scheinen darin kein großes Problem zu erkennen. Sind die Rechten Gegner? Alliierte? Versuchen sie, die Ukraine zu destabilisieren?

Einige europäische Diplomat*innen vermuten, Russland trage möglicherweise eine Mitverantwortung für die Umtriebe – durch Anheuern eigene Leute. Offen zitieren lassen wollen sie sich damit aber nicht. Menschenrechtsaktivist*innen jedenfalls wünschen sich eine deutlichere Distanzierung der ukrainischen Politiker*innen von den rechten Umtrieben.

Langfristig, so glauben die meisten LGBTIQ*-Aktivist*innen, werde die Öffnung der Ukraine nach Westen die Situation der Community und die Gesellschaft insgesamt zum Positiven verändern – Neonazis hin oder her. Die russische Regierung stehe mit ihrer homophoben Agenda für ein überkommenes Modell, dem die Ukraine nicht nacheifern könne, selbst wenn sich der Westen und Russland wieder annähern würden. Die LGBTIQ*-Community hat mit ihrem Kampf für Menschenrechte einen entscheidenden Beitrag zur positiven Veränderung der ukrainischen Gesellschaft geleistet. (Stand: März 2021)

Lesetipps: