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#FundReise Tag 26 – Odesa, auf ein Neues

02.01.2023 | cb — Keine Kommentare
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Ihr erster Aufenthalt in Odesa war schon sehr kurz geraten. Sibylle hat an der Stadt am Schwarzen Meer noch einiges zu erledigen: Freund*innen treffen, Geschichte erforschen, ihre Kriegserlebnisse verarbeiten.

Das ist der Blog von Sibylle von Tiedemann, Mitgründerin von Munich Kyiv Queer. Sie wollte nicht mehr nur zuschauen, was in der Ukraine passiert, und fuhr selbst hin. Vor Ort besucht sie seit einigen Wochen unsere Freund*innen und Partner, sie berichtet und sammelt Spenden.

Strom: besser (als Odesa vor zwei Wochen) & besser (als Charkiw)
Temperatur: warm
Spendenbarometer: 13.161,78 von 18.000 Euro
Besondere Vorkommnisse: Spirit
Alle Blogbeiträge: Sibylles #FundReise nach Kyjiw mitten im Krieg


Zum dritten Mal während meiner #FundReise nutze ich den Bahnhof von Odesa, das erste Mal bei Tageslicht und ich erkenne: Er ist wunderschön. Ich bin mit dem Nachtzug aus Charkiw angereist.

Sibylle am Schwarzen Meer. Foto: Sibylle von Tiedemann

Jetzt irrlichtere ich ein wenig durch die Ukraine, was der inneren und äußeren Dynamik einer Reise durch ein Land geschuldet ist, das sich in einem brutalen Angriffskrieg befindet. Aber mein erster Odesa-Aufenthalt war einfach arg kurz geraten.

Das erste Mal überhaupt wage ich es, in der von Russlands Angriffskrieg terrorisierten Ukraine über Airbnb eine Wohnung zu mieten. Für ein bisschen Privatsphäre.

Der Bahnhof von Odesa mit meinem Nachtzug. Foto: Sibylle von Tiedemann

Odesa hat jedoch nach wie vor ein erhebliches Stromproblem, auch wenn sich die Situation seit dem jüngsten russischen Angriff verbessert hat. So spielt sich die Privatsphäre in einer meist dunklen, stromlosen Airbnb-Wohnung ab, in der weder WLAN noch mobiles Internet funktionieren.

Da sich die Wohnung im Erdgeschoss eines Innenhofes direkt gegenüber der Hofzufahrt befindet, flackern die Taschenlampen der heimkehrenden Nachbarn durch meine Wohnzimmergardinen. Ich fühle mich wie von Einbrechern heimgesucht, leuchte jedoch tapfer zurück.

Einbrechen zwecklos

„Hallo, hier ist jemand zu Hause, Einbrechen zwecklos“, will ich signalisieren. Sicher ist sicher. Zum Glück ist nach 23 Uhr Sperrstunde und damit auch endgültig dunkel. Jetzt drohen nur noch russische Raketen.

In der dunklen Ukraine sind Taschenlampen unersetzlich. Foto: Sibylle von Tiedemann

Ich mag Odesa. Das Meer. Die Stadt. Die Menschen. Die Katzen. Die haben sich früher auf den Gehwegen breit gemacht, sind jetzt jedoch verschwunden. Liegt es am Krieg? Oder am Winter? Ich weiß es nicht.

Räucherfisch, München-Bier – fast wie Urlaub

Nach Charkiw kommt mir Odesa trotzdem fast idyllisch vor. Fast. Für theoretische Erörterungen „mit München“ bin ich erstmal nicht ansprechbar …

Wenn die Anspannung nachlässt. Screenshot: Sibylle von Tiedemann

Iryna Hanenkova kenne ich seit 2017, als sie für das Creative Protest Festival der Gay Alliance Ukraine in Odesa fotografiert hat. Naomi Lawrence, Uwe Hagenberg und ich haben als Münchner Beitrag Workshops angeboten. Ich denke gerne an dieses Event zurück, das mit dem Odesa-Pride endete.

Treffen mit einer alten Freundin

Auch Iryna war Teilnehmerin bei Uwe Hagenbergs Workshop zum Community-Building und hat damals bei mir gewohnt. Für Munich Kyiv Queer schreibt sie über ihren Kriegs-Alltag in Odesa.

Iryna ist erst 27 Jahre alt. Und sehr ernst. Ich glaube, das ist der Krieg, und ihre Arbeit mit behinderten Kindern. „Dass Selenskyj in der Ukraine geblieben ist, hat es erst ermöglicht, dass die Ukraine als Land kämpft. Dass nicht jede Stadt für sich kämpft“, erläutert sie mir im Café.

Ich rede gerne über Selenskyj, den Komiker und Schauspieler, der als Kriegs-Präsident zur Rolle seines Lebens gefunden hat. Gefühlt die Hälfte aller Facebook-Herzchen stammen von meinem Account.

Mit Iryna mache ich auch einen langen Spaziergang am Meer, esse Räucherfisch und entdecke odessitisches Craftbeer „München“. Es fühlt sich fast ein bisschen wie Urlaub an. Fast.

Deutsche Verbrechen in der Ukraine

In meinem Blog schreibe ich über den russischen Angriffskrieg. Ich schreibe als Deutsche und als Historikerin.

Im 2. Weltkrieg wurden unglaubliche Verbrechen von Deutschen begangen. Auch und gerade in der Ukraine. Verübt von Soldaten der Wehrmacht, Polizisten der Einsatzgruppen, Beamten hinter Schreibtischen.

In der Schwarzmeerstadt florierte einst das jüdische Leben wie sonst nirgendwo im einstigen Russischen Reich oder der späteren Sowjetunion. Das kann man heute noch an jeder Speisekarte ablesen, wo das jüdische Gericht „Forschmak“ angeboten wird. Eine kleine Vorspeise, ein Vorgeschmack also.

„Forschmak“, eine Vorspeise der jüdischen Küche mit den Zutaten Hering und Apfel. Foto: Sibylle von Tiedemann

Die Brodsky-Synagoge war die erste Synagoge Osteuropas mit einer Orgel, sie gehörte also zu einer reformierten Gemeinde. Das Gebäude wurde ihr 1925 weggenommen, profanisiert und vom Arbeiterclub „Rosa Luxemburg“ genutzt.

Heute beherbergt die Brodsky-Synagoge das Staatsarchiv. Bei einer „Befreiung“ durch russische Raketen, die sich häufig gegen Archive, Museen und überhaupt ukrainische Kulturgüter richten, würde auch ein Stück jüdischer Geschichte endgültig verloren gehen. Noch steht sie …

Die Verbrechen, die deutschen Verbrechen im 2. Weltkrieg, richteten sich aber nicht nur gegen die jüdische, sondern gegen die ganze Bevölkerung. Gegen die „minderwertigen“ Slawen.

Synagoge von Odesa: Heute beherbergt sie das Staatsarchiv. Foto: Sibylle von Tiedemann

Über die Verbrechen der Wehrmacht wurde in der breiten Öffentlichkeit erst in den 1990er Jahren mit der gleichnamigen Ausstellung gesprochen. Der Literaturnobelpreisträger Heinrich Böll hat jedoch schon kurz nach Kriegsende über seine Zeit als Soldat geschrieben: „Damals in Odessa“, veröffentlicht in seinem Kurzgeschichtenband „Wanderer, kommst du nach Spa…“

Geschichte unter neuen Vorzeichen

Zurück zur #FundReise. Über Airbnb werden seit einigen Jahren auch „Entdeckungen“ angeboten und so buche ich eine Führung durch den Gedenkpark der Küstenverteidigung von Odesa im 2. Weltkrieg. „Batterie 411“ genannt. Ist ja sehr aktuell gerade.

Ohne Worte. Foto: Sibylle von Tiedemann

Da fällt mir dann auch ein, dass ich klarstellen sollte, dass ich diese Führung tatsächlich machen möchte und meine Buchung nicht eine Solidaritätsaktion ist, wie sie vor allem in den ersten Kriegswochen stattgefunden haben, als Menschen Zimmer, Wohnungen und Aktivitäten in der Ukraine gebucht haben, um den Menschen Geld zukommen zu lassen.

Die Busfahrt zum Gedenkpark dauert eine Stunde. Dort treffe ich Stanislaw. Er arbeitet im Historischen Museum in Odesa, hat seine Magisterarbeit über Panzer geschrieben. Als sich zu Beginn der Führung die ukrainische Flugabwehr mit lautem Knallen bemerkbar macht, bleibt Stanislaw trotz Luftalarms und Raketenbeschusses ruhig. Also bleibe ich auch ruhig.

Meldung vom Donnerstag, 29.12.2022. In Odesa werde ich während einer Führung Ohrenzeugin. Screenshot: Sibylle von Tiedemann

Hätte mir vor einem Jahr jemand gesagt, dass ich 2022 von russischen Raketen angegriffen werde – ich hätte es nicht geglaubt.

Noch grotesker sind jetzt aber Anlass und Ort. So gehen ein Ukrainer und eine Deutsche, beide Historiker, durch historische Verteidigungsanlagen aus dem 2. Weltkrieg, als sich die Rote Armee gegen die Wehrmacht, die Sowjetunion gegen das Deutsche Reich verteidigte. Und vertrauen der ukrainischen Luftabwehr.

Balkon in Odesa. Oben steht „Slava Ukraini“, unten „Russisches Kriegsschiff, fick dich!“ Umrankt von Mohnblumen (Symbol für Kriegsopfer) und einer Sonnenblume (Symbol für die Ukraine). Foto: Sibylle von Tiedemann

Auf dem historischen Gelände lassen sich Panzer, Haubitzen, Fluggerät und U-Boote aus verschiedenen Epochen besichtigen sowie eine historische Verteidigungsanlage aus dem 2. Weltkrieg.

Kompetent erläutert Stanislaw seiner einzigen Teilnehmerin die Ausstellungsobjekte. Am Ende der Führung schenkt er mir ein Exemplar seiner Magisterarbeit.

Die Oper von Odesa ist ein Wahrzeichen. Unbedingt will ich wenigstens noch in der Kassenhalle Fotos machen, trete ein, frage um Erlaubnis und erhalte prompt eine Führung. „Russisch ist ja ein bisschen aus der Mode gekommen; ich verstehe allerdings auch Englisch oder Deutsch“, versuche ich die Sprachenfrage am Anfang zu klären.

Russisch sprechen in der Oper?

Ein weiterer Besucher im Kassenraum der Oper nimmt das als Anlass und ereifert sich: „Warum muss man eigentlich Stücke von Puschkin oder Musik vom Tschaikowsky verbieten?“ -„Warum verbietet man Menschen zu leben?“, antwortet die Mitarbeiterin trocken und macht mit mir dann die Führung. Auf Russisch. Ihrer Muttersprache. Hier ist nichts schwarz-weiß. Zum Glück.

Für das Neujahrsprogramm gibt es noch Karten und so lade ich spontan Switlana Grigorijanz und Nastja Kirichenko ein. Die zwei waren mit ihrem Lesbisch-Feministischen Theater 2015 in München, wo sie im Eine-Welt-Haus im Rahmen einer Kooperation zwischen Munich Kyiv Queer und den Lesbenkulturtagen aufgetreten sind.

Ukrainische Siegesgewissheit

Beide sind aus Cherson, das mittlerweile eine traurige Berühmtheit erlangt hat. Die Stadt wurde am 11. November befreit. Nastja und Switlana gelang schon vorher die Flucht aus der russisch besetzten Stadt. Auf einem Boot. Ich kenne keine Details, doch ihr Hund Drori kommt mir immer noch sehr verschreckt vor.

Drori, Flüchtlingshund aus Cherson, muss ich einfach knuddeln. Foto: privat

Das eindrucksvolle Neujahrsprogramm der Oper zeigt ein Best-of und am Ende wird „Happy New Year“ von ABBA gesungen, wie hier im VIDEO zu sehen ist.

Ich bin berührt und muss fast ein bisschen weinen.

Mit Nastja und Switlana in der Oper von Odesa

„Wir glauben, wir können, wir siegen. Slava Ukraini!“ heißt es am Schluss. Das ist der Spirit, den ich in der Ukraine immer wieder und überall spüre. Trotz des Grauens hier.

#FundReise #MunichKyivLove #18000Euro

Sibylle sammelt Spenden für


EINZELFALLHILFE Munich Kyiv Queer unterstützt mit einer eigenen, privaten Spendenaktion über www.paypal.me/ConradBreyer die Menschen in der Ukraine, mit denen wir in den vergangenen zehn Jahren eng zusammengearbeitet haben. Das ist direkt, schnell und gebührenfrei, wenn Ihr die Option „Geld an einen Freund senden“ wählt. Kennwort #FundReise. Wer kein PayPal hat, kann alternativ an das Privatkonto von Conrad Breyer, IBAN: DE42701500000021121454, Geld schicken. Wir helfen unsere Freund*innen und Partnern. Wir kennen sie persönlich und wir vermissen sie schmerzlich.

HILFE FÜR LGBTIQ*-ORGANISATIONEN Wir haben zum Schutz von LGBTIQ* aus der Ukraine das Bündnis Queere Nothilfe Ukraine mitgegründet. Ihm gehören um die 40 LGBTIQ*-Organisationen in Deutschand an. Sie alle haben ganz unterschiedliche Kontakte in die Ukraine und sind bestens vernetzt mit Menschenrechtsorganisationen vor Ort, die Gelder für die Versorgung oder Evakuierung queerer Menschen brauchen. Spendet hier

Mehr Informationen: www.MunichKyivQueer.org/helfen

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