LGBTIQ* in der Ukraine

Krieg und alles ist anders. Die Welt, wie wir sie kannten, gibt es nicht mehr. Die Zusammenarbeit mit unseren Freund*innen in der Ukraine, einst gegründet auf Menschenrechtsarbeit, Völkververständigung und interkulturellem Austausch, hat sich verändert.

Heute sammeln wir Spenden für LGBTIQ* auf der Flucht; wir leisten Soforthilfe für queere Menschen in Not, wir unterstützen LGBTIQ*-Organisationen, die ihre Community in Sheltern, mit Lebensmitteln, Medikamenten und Ansprache versorgen – und das unter den widrigsten Bedingungen. Viele Städte stehen unter permanentem Beschuss. Mit unseren Aktionen und Veranstaltungen machen wir auf die Lage queerer Menschen in der Ukraine aufmerksam. HELFEN KÖNNT IHR HIER

Wie ist die Lage?

Vor Putins Armee haben viele Lesben, Schwule, bisexuelle, trans* und inter* Menschen Angst. Wenn die Russen erstmal das Land eingenommen haben, fürchten sie, könnten die Besatzer gegen sie vorgehen. Russland bekämpft alles Queere seit 2013 mit einem Gesetz gegen so genannte Gay-Propaganda systematisch. In Tschetschenien hat das 2017 zu Verfolgungen geführt.

Wo Russland Gebiete bereits eingenommen hat, berichten Betroffene von Übergriffen. Viele verstecken sich deshalb oder fliehen. Nicht alle indes können gehen: Männer* und männlich gelesene Personen dürfen das Land der Generalmobilmachung wegen nicht verlassen. Einige greifen selbst zur Waffe, um ihr Land zu verteidigen. Und nicht wenige gehen dabei mit ihrer sexuellen Orientierung und/oder Gender-Identität offen um in der Hoffnung, dass die Solidarität queerer Menschen im Kampf für die Ukraine die Akzeptanz in der Gesellschaft nochmal steigern wird. Nicht alle überleben den Einsatz.

LGBTIQ* sind als Minderheit aufgrund von Diskriminierungserfahrungen in einer noch immer relativ homo- und transfeindlichen Gesellschaft oft traumatisiert und – obwohl die Akzeptanz gegenüber LGBTIQ* seit dem 24. Februar gestiegen ist – besonders schutzbedürftig.

Einige fürchten nun eine Radikalisierung der Gesellschaft, die neue Gewalt gegenüber LGBTIQ* hervorbringen könnte. Viele hoffen aber auch auf mehr Zusammenhalt, da alle gemeinsam gegen den einen Feind kämpfen. Die Lage ist mehr als schwierig.

Sichtbarkeit und Akzeptanz: Das sind die Fakten

Dabei wir die Community auf einem guten Weg: Vor dem Einmarsch der russischen Armee präsentierten sich queere Menschen mit ihren Anliegen sichtbarer denn je. Sie trotzten der Ignoranz großer Teile der Politik und der teils aggressiven Gegenwehr einiger weniger, aber umso lauterer rechter, religiöser und häufig prorussischer Gruppen und rangen ihnen Zugeständnisse ab. Eigentlich eine Erfolgsgeschichte. Übergriffe dokumentiert das Kyjiwer LGBTIQ* Human Rights Center Nash Svit jedes Jahr detailliert in seinen Reports.

Die breite Mehrheit der Menschen in der Ukraine ist so über die Jahre immer aufgeschlossener geworden, ihre Akzeptanz gegenüber queeren Lebensweisen gestiegen. Das legte noch vor Kriegsausbruch zum Beispiel die Studie „What Ukrainians Know and Think About Human Rights: Assessing Change“ von der Ilko Kucheriv Democratic Initiatives Foundation nahe. Im Vergleich zu 2016 war die Zahl der Bürger*innen, die Toleranz als Grundwert betrachten, 2020 um sechs auf 31 Prozent gestiegen. Grundsätzlich hatten da schon immer mehr Menschen verstanden, dass sexuelle Minderheiten besonders unter Diskriminierung leiden (26,3 Prozent).

„Tatsächlich erregten LGBTIQ*-Themen zuletzt keine besonders starken Gefühle mehr in der breiten ukrainischen Bevölkerung“, sagt Andrii Kravchuk, einer der Manager von Nash Svit. Die Menschen ließen durchaus mit sich reden, wenn es um sexuelle Minderheiten gehe.

Und das sind die Pläne

Eine aktuelle Studie von Nash Svit bestätigt das. Ihr zufolge setzen sich inzwischen 70,4 Prozent aller Ukrainer*innen für gleiche Rechte von LGBTIQ* ein. 2023 lag diese Zahl noch bei 67,3, 2022 bei 63,7 Prozent.

Mitten im Krieg nun hat eine Abgeordnete einen Gesetzesentwurf für eine Lebenspartnerschaft ins Parlament eingebracht, um die Rechte von LGBTIQ* gerade im Krieg (s.o.) zu stärken. Und Präsident Volodymyr Zelensky hat sie in Aussicht gestellt.

Die Einführung einer solchen „Ehe für alle“ light befürworteten 2023 laut Nash Svit 28,7 Prozent aller Ukrainer*innen, 25,6 Prozent stehen ihr gleichgültig gegenüber, 35,7 Prozent sind dagegen. Das klingt nach wenig Unterstützung. Tatsächlich aber ist damit die Kluft zwischen Befürworter- und Gegner*innen gesunken und zwar von 18,3 Prozent im Jahr 2022 auf aktuell sieben Prozent. 2016, um einen längeren Zeitraum zu betrachten, waren gerade mal fünf Prozent der Ukrainer*innen für eine Homo-Ehe! Andere Erhebungen bestätigen diese Trends.

Nun ist die Forderung nach eingetragenen Lebenspartnerschaften nicht neu. Bereits seit 2015 sind sie eines Aktionsplans für Menschenrechte, dessen Umsetzung die Regierungen des Landes immer wieder verschoben haben. Er sieht umfassende Gesetzesvorhaben vor und zwar unter anderem

Realisiert wurde davon bislang nur das wenigste: Die Transition wurde vereinfacht, auf Druck der EU auch ein Diskriminierungsschutz am Arbeitsplatz eingeführt. Immerhin aber ist der Aktionsplan nicht verworfen, sondern Teil des Recovery Plan für die Ukraine geworden, der beim Wiederaufbau des Landes nach Kriegsende ansteht.

Die Chancen für mehr Gleichberechtigung stehen also, so könnte man meinen, nicht schlecht. 

Erfolg dank Pride-Bewegung

Befördert hat sie – neben den vielen Aufklärungskampagnen und sichtbaren Aktionen der queeren Zivilgesellschaft vor Ort – insbesondere die landesweite Pride-Bewegung. Seit 2012 hat die Community in der Ukraine jedes Jahr versucht, einen eigenen CSD durchzuführen, um nach dem Vorbild des Stonewall-Aufstands von 1969 in New York für gleiche Rechte und Akzeptanz von LGBTIQ* zu demonstrieren.

2013 konnte noch unter dem russlandfreundlichen Präsidenten Viktor Yanukovych zum ersten Mal ein Pride in Kyjiw stattfinden. 150 Leute demonstrierten außerhalb der Stadt, von der Polizei geschützt und unterstützt von Gästen unter anderem aus München, für die Menschen- und Bürgerrechte queerer Ukrainer*innen. Beim letzten Pride vor Kriegsausbruch 2021 – der EuroMaidan lag da bereits sieben Jahre zurück – waren es Tausende Menschen, die mitten im Zentrum marschierten. Und darunter befanden sich beileibe nicht nur Diplomat*innen ausländischer Botschaften und Mitglieder der LGBTIQ*-Community, sondern zahlreiche Allies.

Der KyivPride war anfangs selbst in der Community umstritten: Eine Mehrheit der Kyjiwer*innen (57 Prozent) lehnte ihn laut einer Befragung des Marktforschungsinstituts Active Group vom April 2017 ab; nur 38 Prozent waren dafür. Dann aber wuchs die Zahl der Verbündeten. Nach Kyjiw fingen schließlich mehr und mehr LGBTIQ*-Organisationen an, auch in anderen Städten Prides zu organisieren, so in Odesa und Krywwji Rih, in Saporischschja und Charkiw. Selbst in den Kriegsjahren konnten teils Prides stattfinden.

Hoffnung auf gleiche Rechte und Akzeptanz

Langfristig, so glauben die meisten LGBTIQ*-Aktivist*innen, werde die Öffnung der Ukraine nach Westen nach dem Krieg – zumal als EU-Beitrittskandidatin und vielleicht als Mitglied der NATO – die Situation der Community und die Gesellschaft insgesamt zum Positiven verändern. Das Regime in Moskau stehe mit seiner homo- und transfeindlichen Agenda für ein überkommenes Modell der „russischen Welt“, dem die Ukraine nicht nacheifern wolle.

Die LGBTIQ*-Community hat mit ihrem Kampf für Menschenrechte in den vergangenen Jahren einen entscheidenden Beitrag zur Öffnung der ukrainischen Gesellschaft geleistet. Mit dem Krieg steht das nun alles wieder in Frage.