BLOG CREATIVE PROTEST ON TOUR Krivyi Rih
Auf Einladung der Gay Alliance Ukraine sind sie unterwegs, um Politik zu machen, Politik mit einfachen, kreativen Mitteln, die nicht teuer sind und Spaß machen. Naomi Lawrence, Künstlerin aus München, hat das Konzept dafür entwickelt, für die Creative Protest Workshops, die erstmals auf Tour gehen durch die Queer Homes der Ukraine. Die Queer Homes – das sind Kultur- und Kommunikationszentren für LGBTIQ, die die Gay Alliance Ukraine im ganzen Land betreibt. Begleitet wird Naomi von Ania Shapiro, einer amerikanischen Menschenrechtsaktivistin aus Berlin, die wie Naomi Lawrence Teil von Munich Kyiv Queer ist. Mila und Vera, zwei ukrainische Filmemacherinnen, zeichnen das Ganze mit ihrer Kamera auf. Am Ende soll ein Dokumentarfilm entstehen. Ein deutsch-ukrainisches Gemeinschaftsprojekt, eine Herzensangelegenheit für alle.
Die Zugfahrt nach Krivyi Rih dauert nur sechs Stunden. Ich bin erleichtert. Das Fenster im Abteil lässt sich öffnen – aber nicht mehr schließen. Es wird eine windige Fahrt.
Am Bahnhof haben wir Mühe, die Taxifahrer abzuschütteln, die uns ihre Dienste zu überteuerten Tarifen anbieten. Danach aber präsentiert sich die Stadt viel hübscher, als ich es erwartet hatte. Es gibt viele Grünanlagen mit Blumen und gepflegtem Rasen. Diese Stadt scheint mehr Geld zu haben als Saporischschja.
Unser Hotel ist nicht weit vom Queer Home entfernt. Um 18 Uhr kommt, wie verabredet, Boris, um uns abzuholen. Im Queer Home angekommen treffe ich den Koordinator Vadim. Ich freue mich sehr, denn auch ihn kenne ich bereits aus München, wo er dieses Jahr für das Volunteer Training von Munich Kyiv Queer und Gay Alliance Ukraine war.
Im Queer Home sitzen bereits einige Leute, die für den Workshop gekommen sind.
Die Stimmung ist hier deutlich anders als in Odessa und Saporischschja, viel reservierter. Dieses Mal übersetzen Ania, Vitalik und später auch Ludmila für mich. Aber ich habe Mühe, den Leuten ein Lächeln abzuringen. Es ist harte Arbeit, sie aus ihrer Deckung zu locken. Aber bei den kreativen Übungen machen sie bereitwillig mit. Das ist eine Konstante in allen Queer Homes: Alle sind gerne kreativ und sprechen auch gerne über ihre Bilder. Bei der Übung „What are you passionate about?“ gibt es, wie meist, unterschiedlichste Themen. Tier- und Umweltschutz, LGBTIQ und auch Persönliches. Ein Mädchen erzählt, dass sie sich große Sorgen macht wegen ihres Bruders, der wahrscheinlich zur Armee muss. Das ist das erste Mal während der Creative Protest Tour, dass der Krieg in der Ukraine direkt angesprochen wird. Und es ist ein Paradebeispiel für die Schutzhaltung, die viele Menschen einnehmen müssen, um trotz der vielen Schwierigkeiten zu überleben, mit denen sie tagtäglich konfrontiert sind. Die Probleme, die so überwältigend sind, dass sie ein Gefühl der Ohnmacht erzeugen, werden so gut es geht weggedrückt. Nur wenn eine persönliche Betroffenheit dazu kommt, bricht diese Konstruktion zusammen. Es ist keine Gleichgültigkeit, sondern ein Überlebensmechanismus.
Während meiner Bildershow mit Beispielen von kreativem Protest kommt Bewegung in die Gruppe. Es wird nachgefragt und kontrovers diskutiert. Aber es ist schon sehr spät und die Konzentration lässt bei allen nach. Deshalb schlägt Vadim vor, den Workshop zu verkürzen und mit der Planung der Flashmobs zu beginnen. Ich bin gespannt was angesichts der Müdigkeit in den Gesichtern noch an Ideen zustande kommt. Doch innerhalb von 30 Minuten gibt es nicht nur eine konkrete Idee, sondern auch einen genauen Zeitplan. Die Gruppe ist extrem effektiv. Sie wollen auf dem Trottoir vor einem Hochhauskomplex eine Botschaft schreiben: „Keep calm and go to KyivPride!“ Das ist für diese Gruppe genau das richtige Motto, denn viele sind besorgt, dass es beim Pride wieder zu Angriffen von Rechtsradikalen und Hooligans kommen wird so wie im vergangenen Jahr.
Am nächsten Tag ist die Stimmung ganz anders. Denn es sind mehr Leute da als am Vortag. Prima! Als erstes singt uns der Chor des Queer Home ein Ständchen. Ich bin gerührt. Der Chor besteht nur aus Männern. Und das in dieser harten Stadt! Es ist ein patriotisches Lied, dessen Text sie umgeschrieben haben.
Alle sind sehr tatkräftig und aktiv. Die Leute wollen definitiv etwas machen. Die Vorbereitung dauert nicht lange, das Motiv ist schnell ausgedruckt und die Kreiden sind bereits besorgt. Wir laufen los und unterwegs erzählt mir Ela, die in dem Queer Home Monitoring macht, dass es letztes Jahr einen Überfall auf das Queer Home gegeben hat. Das Queer Home feierte in einem Café mit etwa 40 Gästen eine Party, als zirka 30 Männer in Camouflage-Anzügen kamen und den Raum nach Kindern durchsuchten. Sie fanden keine, aber es kam zu Schlägereien, bei denen drei Gäste verletzt wurden. Darunter auch Vadim, der eine schwere Gehirnerschütterung und eine Verletzung am Auge erlitt. Er musste längere Zeit im Krankenhaus behandelt werden und hat immer noch gesundheitliche Probleme deswegen. Am nächsten Tag wollten sie im Queer Home die Augenzeugenberichte auf Video aufnehmen, aber sie wurden erneut von etwa 20 Männern überfallen und die Einrichtung zum Teil zerstört. Wie üblich konnte die Polizei keinen homophoben Hintergrund erkennen und stufte die ganzen Geschehnisse als private Auseinandersetzung ein. Natürlich wurde bislang auch keiner der Angreifer verhaftet. Eli meinte, die Leute seien immer noch verängstigt und zum Teil auch traumatisiert.
Ich bin erschüttert. Am Vortag war davon nichts zu spüren gewesen. Die Leute schienen eher cool, fast ein bisschen teilnahmslos. Aber vielleicht ist das die adäquate Reaktion auf eine Situation, die so bedrohlich ist. Man kann nicht ständig in Angst leben, vor allem nicht, wenn die Gefahr so konkret ist. Denn das Leben ist schon hart genug. Die wirtschaftliche Lage in der Ukraine ist desolat und Krivyi Rih ist ein rauhes Pflaster. Schon zu Sowjet-Zeiten war die Stadt berüchtigt. Es ist die zweitlängste Stadt der Welt, 130 km lang. Sie besteht aus einer Aneinanderreihung verschiedener sozialer Bevölkerungsgruppen, die nebeneinander und nicht miteinander leben. Mienen und Metallindustrie, viel Kriminalität und viele Drogen. Die gepflegten Grünanlagen täuschen, dies ist kein guter Ort zum Leben.
Ich frage Eli, wie es sein kann, dass trotz dieser Vorfälle so viele zum Flashmob gekommen sind. „Sie sind es einfach leid, unsichtbar zu sein“, ist ihre Antwort.
Als wir an unserem Platz ankommen, macht sich Betriebsamkeit breit. Alle schnappen sich eine Kreide, manche zeichnen vor und andere malen die Buchstaben mit Farben aus. Die Stimmung ist konzentriert und fröhlich zugleich. Im Team geht es erstaunlich schnell. Eine halbe Stunde etwa dauert es, bis wir unsere riesige Botschaft auf den Fußweg gemalt haben. Wir lachen viel, denn das Malen mit Kreide bewirkt, dass wir uns wie kleine Kinder fühlen. Der Spaß vertreibt die Angst. Am Schluss machen wir wieder viele Fotos; niemand scheint es eilig zu haben, von hier weg zu kommen.
Aber wir wollen weiter, denn inzwischen ist in jeder Stadt ein Foto mit unserem Regenbogenschirm und einer Statue ein Muss. Schon am Vortag hatten wir in einem Park einen Kosaken mit seinem Pferd gesehen, dem etwas Abwechslung gut tun würde. Es ist immer wieder erstaunlich, was für einen großen Unterschied so ein kleiner Farbtupfer macht
Ganz in seiner Nähe entdecken wir dann noch ein trauriges Ehepaar, welches dringend Aufmunterung braucht. Wir helfen, wo wir können…
Das letzte Happening ist bei unserem Hotel. Dort gibt es einen kleinen Schrein. Für den haben wir ein Schild vorbereitet: „Pray and go to KyivPride“ Jeweils zwei von uns gehen davor auf die Knie. Dies ist nicht nur ein Seitenhieb an die vielen Fundamentalisten, die vor und während des Pride Sturm gegen uns laufen. Es ist auch durchaus ernst gemeint. Viele in der LGBTI-Community sind gläubig und etliche tragen ein Kreuz um den Hals. Sie müssen damit leben, dass sie an einen Gott glauben, dessen Amtsträger auf Erden eine bigotte Hetzjagd gegen sie betreiben.
Die orthodoxe Kirche hier hat Geld und Macht. Sie ist eine rückwärtsgewandte Institution. Deshalb hat sie Angst vor Wissen und Aufklärung, denn auf eine moderne und weltoffene Gesellschaft ist diese Kirche nicht eingerichtet. Sie sind Vertreter eines überkommenen und extrem patriarchalen Systems. Deshalb ist Veränderung ihr Feind. Aber auch sie kann die Zeit nicht aufhalten.
Ich hätte gerne mehr von den 130 km dieser Stadt gesehen, gerade mal 40 Stunden waren wir hier. Doch am Abend sind wir schon wieder am Bahnhof und warten auf den Nachtzug zu unserer letzten Station. Kyiw wir kommen!
[Naomi Lawrence]
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