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Trotz EU-Kurs: Homo- und Transphobie in der Ukraine wachsen

18.04.2016 | cb — Keine Kommentare
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Jahrzehnte lang hat der ukrainische Staat die sexuellen Minderheiten im Land ignoriert, sogar versucht, wie in Russland ihre „Propaganda“ gesetzlich zu unterbinden, auch wenn das unter dem zunehmenden Druck einer agilen LGBT*-Community in den vergangenen Jahren gescheitert ist. In jüngster Zeit entdeckt die Regierung ihr Herz für Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender. Präsident Petro Poroschenko wird zum Fürsprecher in erster Reihe. Das Parlament hat auf Initiative der Regierungskoalition Ende 2015 einen Diskriminierungsschutz für sexuelle Minderheiten am Arbeitsplatz gesetzlich verankert. Menschenrechtsaktivist*innen werten dies als Wendepunkt in der traditionell homophoben Politik des ehemaligen Sowjetstaates. Bis 2020, so sieht es ein Aktionsplan der Regierung vor, sollen in der Ukraine sogar gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften eingeführt werden. Doch darf nicht vergessen werden, dass diese LGBT-freundliche Politik vor allem pragmatische Gründe hat. Zum einen macht die Europäische Union Druck, von der sich die Ukraine finanzielle Hilfen, visafreies Reisen und im Zuge der Assoziierung eine weitere Annäherung erhofft. Zum anderen will sich die Regierung in Kiew von Russland abgrenzen, das Teile des Landes besetzt hat. In der Bevölkerung allerdings verfängt die neue Politik nicht, Homo- und Transphobie nehmen zu. Rechtsradikale gehen offensiv gegen Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender vor.

Einleitung

Die Abstimmung trug Züge eines Kulturkampfes. Immer wieder musste Parlamentssprecher Volodymyr Hroysman die Abgeordneten zur Disziplin aufrufen, bis schließlich – nach vier Runden und über mehrere Tage – eine knappe Mehrheit in der Verchowna Rada für die Vorlage der Regierung stimmte. So fügten die Parlamentarier am 12. November 2015 dem Arbeitsgesetz (no. 3442) einen Passus hinzu, nach dem nun künftig auch Menschen am Arbeitsplatz vor Diskriminierung geschützt werden, die sich einer bestimmten sexuellen Orientierung oder Gender-Identität verbunden fühlen. Im Vorfeld hatte Hroysman die traditionellen Familienwerte beschworen. „Das ukrainische Parlament wird niemals gleichgeschlechtliche Ehen unterstützen. Gott bewahre“, sagte er vor der Rada. Jetzt aber gehe es um visafreies Reisen in die Europäische Union. So hat er den Zusatz im Gesetz schließlich durchgesetzt.

Auf dem Weg der Ukraine zu einem visafreien Reiseregime hat das Land schon viele Reformvorhaben umgesetzt, der Diskriminierungsschutz sexueller Minderheiten am Arbeitsplatz war nur eines davon, wenn auch das umstrittenste. Dass sich das Parlament dazu durchringen konnte, grenzt an ein Wunder. Die Demonstrantinnen und Demonstranten vor der Verchowna Rada, neben den LGBT- auch zahlreiche Menschenrechtsaktivistinnen und -aktivisten, brachen in Jubel aus. Stundenlang hatten sie an diesem Tag im November vor dem Parlament im Regen ausgeharrt.

Das neue Antidiskriminierungsgesetz soll im Job für eine Gleichbehandlung aller Arbeitnehmer sorgen, unabhängig von Religion, Hautfarbe, politischer Überzeugung und jetzt auch – sexueller Orientierung/Gender-Identität. Arbeitgeber, die dagegen verstoßen, müssen mit Sanktionen rechnen.

Beobachter werten das Gesetz als historischen Wendepunkt. Nie zuvor in der noch jungen Geschichte der unabhängigen Ukraine hat sich das Land in seinen Gesetzen explizit zur Existenz von LGBT und deren Rechten bekannt, seit im Jahr 1991 der einvernehmliche Sex unter Männern legalisiert wurde – übrigens in der Ukraine als erstem Land der ehemaligen Sowjetunion. Und das könnte nun ein Neuanfang sein. Die offizielle Politik des Landes gegenüber Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgender hat sich seit der Revolution der Würde vor zwei Jahren, dem Maidan, radikal verändert – allerdings nur auf den ersten Blick. Denn die Menschen in der Ukraine stehen der gleichgeschlechtlichen Liebe feindselig gegenüber.

Blick durch die rosa Brille?

Im Aktionsplan der Regierung zur Umsetzung der nationalen Menschenrechtsstrategie bis 2020 vom 23. November 2015 stellt die Ukraine den sexuellen Minderheiten im Land weitreichende Rechte in Aussicht, etwa

  • den Schutz vor Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung / Gender-Identität in allen Aspekten des Lebens, die das Gesetz regelt,
  • eine eingetragene Partnerschaft für gleichgeschlechtliche Paare,
  • eine neue Gesetzgebung für Transgender, die ihr Geschlecht anpassen wollen,
  • eine Berücksichtigung von Hassmotiven als erschwerende Umstände im Strafgesetzbuch und
  • ein Ende des Adoptionsverbots für Transgender.

Freilich ist der Aktionsplan lediglich ein Plan. Die Regierung muss die entsprechenden Gesetzesentwürfe ins Parlament einbringen. In der Volksvertretung, wie sie jetzt besteht, dürften die Vorlagen keine Chance haben. LGBT-Aktivist*innen rechnen sich aber für die nächste Legislaturperiode durchaus Möglichkeiten aus, wenn noch mehr Politikerinnen und Politiker einer neuen Generation die alten, von Oligarcheninteressen geleiteten Abgeordneten ablösen sollten.

Eine dunkle Historie

Wie radikal sich die Politik der Ukraine gegenüber ihren sexuellen Minderheiten verändert hat, macht erst der Vergleich mit der Vergangenheit deutlich. Die Errungenschaften des vergangenen Jahres – die Ergänzung des bestehenden Arbeitsrechts und der Aktionsplan für Menschenrechte bis 2020 – folgen auf eine Zeit mit Parlamentsinitiativen, die völlig gegensätzliche Ziele verfolgten. So sollte noch 2012 nach russischem Vorbild ein Anti-Gay-Propagandagesetz eingeführt werden. Das ist wenige Jahre her, dazwischen lagen Wahlen, vor allem aber eine Revolution.

Damals hatten alle Parteien, ob in Regierungsverantwortung oder in der Opposition, für ein Gesetz gegen so genannte Gay-Propaganda (no. 8711; ab 12.12.2012 no. 0945, ergänzt durch das Gesetz no. 1155) gestimmt. Der Entwurf sah ein Verbot jedweder positiver Information über Homosexualität vor, sei es in der Öffentlichkeit oder in den Medien, und sollte ein Zuwiderhandeln mit bis zu fünf Jahren Haft bestrafen. In Russland ist ein ähnliches Gesetz in Kraft; es führt zu einer staatlicherseits geförderten Homo- und Transphobie und es gilt auch auf der annektierten Krim. In den Gebieten der so genannten Volksrepubliken im Osten der Ukraine ist Homosexualität sogar wieder verboten.

Eine homo- und transphobe Ukraine

Die Gesellschaft selbst hat die „Europäisierung“ auf staatlicher Ebene bislang wenig verändert – das Gegenteil ist der Fall. Bis heute könnte sich eine Politik wie oben beschrieben auf eine in der Bevölkerung weit verbreitete Ablehnung gegenüber LGBT stützen. Denn die ukrainische Gesellschaft war und ist – wie viele postsowjetische Länder – zutiefst lesben-, schwulen- und transfeindlich. Aktuellen Umfragen der LGBT-Organisation Nash Mir zufolge, die sie anlässlich der Konferenz „LGBT Issues and the European Integration of Ukraine“ am 15. und 16. März dieses Jahres in Kiew erhoben hat, sind die Menschen in der Ukraine nicht bereit, ihren Mitbürger*innen die gleichen Rechte zuzugestehen, wenn sie lesbisch, schwul, bisexuell oder transident sind. Nur 33,4 Prozent sagen, das sei nötig. 2002 waren es noch 43 Prozent. 69 Prozent sind außerdem dagegen, eine Homo-Ehe einzuführen. 2002 waren es nur 54 Prozent.

Homosexualität gilt vielen nach wie vor als Krankheit, Perversion, als westliche Mode. In einer von Wirtschaftskrisen, Krieg und Propaganda gezeichneten Gesellschaft erscheinen LGBT-Rechte wie ein Luxus, den sich das Land nicht leisten kann und will. Die Gesellschaft wirkt zunehmend polarisiert: Die einen streiten für vermeintlich liberale, europäische Werte, die anderen für traditionelle, ukrainische, ohne genau zu wissen, was das eigentlich bedeutet. Eine Diskussion um Menschen- und Bürgerrechte für alle findet nicht statt. Dabei hat sich der Maidan ja vor allem auf sie als Grundlage einer neuen Ukraine berufen. Vielleicht steht dahinter auch ein Generationenproblem: Immerhin kann sich heute zumindest jeder zweite junge Mensch in der Ukraine zwischen 14 und 35 Jahren schon vorstellen, Tür an Tür mit einem Homosexuellen zu leben („Youth of Ukraine – 2015“, GfK Ukraine) – freilich lehnt das die andere Hälfte ab.

Wie ist das zu erklären? Wo doch viele der etablierten Politiker*innen – mit Ausnahme der Rechtsradikalen vom Rechten Sektor und Svoboda – heute differenziertere Sichtweisen auf das Thema einnehmen. Auch die Medien berichten inzwischen neutral, wie die Studie „The Ice is broken“ von Nash Mir zur Situation von LGBT in der Ukraine 2015 zeigt.

Tatsächlich hat sich die Einstellung der politischen Klasse über Nacht nicht nachhaltig verändert. Sie handelt – abgesehen von einigen wenigen Ausnahmen – aus Kalkül. Die Ukraine hat sich nach der Revolution der Würde einem Westkurs verschrieben und kann nicht, wie noch vor dem Maidan, zwischen Russland und dem Westen hin- und herlavieren. Von der EU erwarten die Regierenden Finanz- und Wirtschaftshilfe, Visafreiheit, eine Perspektive für einen zukünftigen Beitritt. Die Union kann ihre Bedingungen diktieren. Russland und die russisches Welt stellen auf absehbare Zeit keine Alternative dar. Außer dem Präsidenten des Landes, Petro Poroshenko, der die Ukraine dezidiert gegen ein Europa Putin’schen Zuschnitts positioniert, machen sich nur wenige Politikerinnen und Politiker explizit für LGBT stark. Ausnahmen sind etwa Svetlana Zalishchuk und Serhiy Leschenko, beide Abgeordnete des Blocks Poroshenko, die 2015 beim KyivPride mitgelaufen sind. Die Politik verurteilt die Gewalt rechtsradikaler Gruppen gegen sexuelle Minderheiten nicht und lässt die Rechten gewähren. Denn, so ihr Argument, als Patrioten kämpften sie an der Front, Lesben und Schwule täten das nicht. Die Behauptung ist zwar falsch, sie beweist aber, wie tief die Vorurteile sitzen. Den Schutz der eigenen Bevölkerung überlässt der Staat damit der Europäischen Union, die für Diskriminierungsschutz eintritt. Ihre Forderungen gilt es zu erfüllen, wohl oder übel.

Ein großes Problem sind die Kirchen aller Konfessionen. Sie fürchten um Moral, traditionelle Familienwerte und die ukrainische Identität, sobald es um LGBT-Rechte geht. Die Kirchen sind sehr einflussreich in ihren Hassreden, ihrer Ablehnung und ihren Vorurteilen gegenüber Schwulen, Lesben, Bisexuellen und Transgender. Sie haben in den vergangenen Jahren stets gegen einen Diskriminierungsschutz gekämpft. Auch eine eingetragene Lebenspartnerschaft lehnen sie ab.

Ohne die EU keine Bewegung

Es ist deshalb aus Sicht vieler LGBT-Aktivist*innen auch in Zukunft entscheidend, dass die Europäische Union die Ukraine nicht aufgibt. „Ohne Europa keine LGBT-Bewegung“, sagt etwa Bogdan Globa, einer der profiliertesten LGBT-Aktivisten des Landes. Er hat sich 2013 als erster Homosexueller vor dem ukrainischen Parlament geoutet. Globa leitet die LGBT-Organisation Fulcrum/Tochka Opori in Kiew, der mit Tergo auch eine Elterninitiative angehört. (Doch steht das Engagement der EU nun in Frage, da die Niederländer im Referendum vom 6. April eine engere Assoziierung ihres Landes mit der Ukraine abgelehnt haben.)

Allerdings darf man die Rolle der Zivilgesellschaft nicht unterschätzen. Den Menschenrechts- und LGBT-Organisationen ist es zu verdanken, dass die Regierung den genannten Aktionsplan für Menschenrechte in der dargestellten Form verabschiedet hat. Hinter der ukrainischen LGBT-Bewegung steht eine gut organisierte, hochmotivierte Community, die für ihre Rechte einsteht. Allein in Kiew gibt es acht große LGBT-Organisationen, in den Regionen kommen weitere hinzu: An ihnen kommt die Politik nicht vorbei, zumal sie mit anderen Menschenrechtsorganisationen auf nationaler wie internationaler Ebene bestens vernetzt sind.

Die Community hat in den vergangenen Jahren mit spektakulären Events im ganzen Land auf ihre Anliegen aufmerksam gemacht und für Diskussionen in ihrem Sinne gesorgt. Seit dem Maidan ist sie noch sichtbarer geworden, sie treibt den politische Diskurs, weil sie verstanden hat, LGBT-Rechte in den Kontext allgemeiner Menschenrechtsarbeit zu setzen. Zu ihrem größten Erfolg zählte 2015 der KyivPride in Kiew. Am „Marsch der Gleichheit“ in Kiew, einer Demonstration für gleiche Rechte für alle, nahmen in der ukrainischen Hauptstadt am 6. Juni 2015 Hunderte Menschen teil. Es war der erste Pride nach dem Sturz des Yanukovych-Regimes, unter dem noch 2013 ein allererster Marsch stattgefunden hatte. Die Polizei wollte den KyivPride 2015 erst schützen, als sich der Präsident des Landes, Petro Poroshenko, vor die Veranstaltenden stellte. Eine Reporterin fragte ihn am Rande einer Pressekonferenz, ob er beim „Marsch der Gleichheit“ mitlaufen werde. Poroshenko antwortete: „Ich betrachte den Marsch der Gleichheit als ein christlicher und ein europäischer Präsident. Beide Dinge sind kompatibel. Ich nehme nicht teil, aber ich sehe keinen Grund ihn in Frage zu stellen, denn es ist das verfassungsmäßige Recht jedes ukrainischen Bürgers.“ Die Polizei hat dieses verfassungsmäßige Recht dann auch gegen Angreifer verteidigt. Rechtsradikale haben den Marsch attackiert. Im Nachgang sind viele verletzt worden, darunter auch Polizisten, einer von ihnen schwer.

Nie zuvor in der Geschichte des Landes hat sich ein ukrainischer Präsident derart dezidiert für LGBT-Rechte ausgesprochen. Auf der Sicherheitskonferenz in München im Februar 2016 legte Poroshenko noch einmal nach und forderte die Europäer auf, sich geeint gegen Russland zu stellen, das für ein Europa unter anderem der Homophobie stehe. Der Schutz sexueller Minderheiten wird damit zu einer Art Staatsräson im Sinne europäischer Werte, für die es sich zu kämpfen lohnt. Die LGBT-Community hat die Äußerungen Poroshenkos dankbar aufgenommen und wird ihren Präsidenten daran messen, solange der im Amt ist.

Daneben hat sich die Community wie folgt hervorgetan:

  • Im April 2015 hat die Elterninitiative Tergo von Fulcrum/Tochka Opori, in der sich Mütter für die Rechte ihrer homosexuellen Kinder einsetzen, im Hotel Ukraina in Kiew eine internationale Konferenz organisiert, die ohne größere Sicherheitsvorkehrungen auskam. Vertreterinnen und Vertreter aus zehn Ländern waren angereist. Es war die erste ihrer Art.
  • In Odessa fand im August 2015 erstmals ein OdesaPride statt, organisiert von der Gay Alliance Ukraine. Die Gay Alliance Ukraine ist die größte LGBT-Organisation des Landes. In Odessa betreibt sie wie in sechs weiteren ukrainischen Städten seit zwei Jahren ein Queer Home, eine Art Kultur- und Kommunikationszentrum für Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender. Die Stadt hat den „Marsch für Gleichheit“ und sämtliche Veranstaltungen rund um die geplante Demonstration allerdings von einem Gericht verbieten lassen, nachdem rechte Gruppen und die Kirche gegen den Pride mobil gemacht hatten. Die Aktivistinnen und Aktivisten haben stattdessen mit kreativen Flashmobs auf ihre Lage aufmerksam gemacht. Das Queer Home der Gay Alliance Ukraine haben in der Woche des OdesaPride Rechtsradikale von Svoboda angegriffen.
  • Im September 2015 hat die LGBT-Organisation LIGA in Mykolaiv die „Days of Equality and Pride“ organisiert, „Tage der Gleichheit und des Stolzes“, die – ähnlich wie die Pride Week in Kiew und Odessa – mit kulturellen, gesellschaftlichen und Sport-Events Gäste anziehen sollte.
  • Im Sommer und Herbst hat die LGBT-Organisation Gender Z aus Zaporizhzhya eine Billboard-kampagne lanciert, die um Toleranz für LGBT warb („Liebe siegt über Hass“). In den vergangenen Jahren hat auch die Gay Alliance Ukraine immer wieder recht erfolgreich Plakatkampagnen im ganzen Land eingesetzt, zum Beispiel um Toleranz und eine diskriminierungsfreie Sprache („Sag gay, nicht Schwuchtel“) zu fördern.
  • Im Oktober 2015 lud die Organisation Insight (LGBT, Transgender) rund um die bekannte LGBT-Aktivistin Olena Shevchenko zur internationalen Konferenz „Transgender im sozialen und medizinischen Kontext“. Nie zuvor hat es eine solche gegeben. Im Dezember folgte das „Equality Festival“ in Kiew mit vielen Kultur-Events, das ebenfalls Insight verantwortet. Insight ist es auch, die sich in der Ukraine als LGBT-Organisation um die Binnenflüchtlinge aus den besetzten Gebieten auf der Krim und im Donbas kümmert. Sie betreibt eigene LGBT-Unterkünfte. Zusammen mit der Trans-Organisation T-ema aus Kiew kämpft Insight auch dafür, im parlamentarischen Prozess eine Verbesserung der gesetzlichen Lage, der medizinischen Versorgung und das Adoptionsrecht für Transgender in der Ukraine zu erreichen.

Gefahr durch radikale Kräfte

Das alles zeigt, wie wendig und ausdifferenziert die ukrainische LGBT-Community inzwischen ist, darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, in welch schwierigem Umfeld ihre Organisationen und Gruppen arbeiten. Zunächst einmal ziehen sich internationale Geldgeber aus der HIV-Prävention im Land zurück, wie der Global Fund. Dieses Geld fehlt den LGBT-Organisationen, die ihre Mittel nun fallweise besorgen müssen, wenn es um konkrete Projekte geht. Hier sind vor allem die EU-Botschaften in Kiew oder auch die Swedish International Development Agency SIDA gefragte Partner. So finanzierten 2015 beispielsweise die norwegische Botschaft und SIDA über die Gay Alliance Ukraine indirekt den KyivPride mit.

Ein weiteres Problem ist die Mobilisierung. Die meisten LGBT-Aktivist*innen leben vom Geld, das sie bei internationalen Gebern beschaffen. Das Ehrenamt setzt sich erst langsam durch. Langfristige gesellschaftliche Veränderungen aber kann nicht Berufsaktivist*innen überlassen werden, sondern ist eine Sache der Grassroot-Bewegung. Die Gay Alliance Ukraine hat das erkannt und schult zusammen mit ihren Partnern in München – Kiew und München sind Partnerstädte – seit einiger Zeit gezielt Ehrenamtliche für den Job in der Ukraine am Beispiel der Szene in der bayerischen Landeshauptstadt. In Deutschland tragen ja vor allem Ehrenamtliche die Community-Arbeit.

Und schließlich ist LGBT-Aktivismus in der Ukraine nach wie kein ungefährlicher Job. Mag die Akzeptanz in den Medien in den vergangenen Jahren zugenommen haben, so sind radikale Minderheiten in der Ukraine bereit, offensiv und mit Gewalt gegen Einrichtungen der LGBT-Community sowie Einzelpersonen vorzugehen. Im Herbst 2014 haben Rechtsradikale das Kino Zhowten in Brand gesteckt, als dort im Rahmen des Filmfestivals Molodist ein französischer Film über Drag Queens lief. 2015 wurden neben dem KyivPride die Queer Homes in Odessa und Kryvyi Rih angegriffen sowie eine Bar in Odessa. Die Organisation Nash Mir in Kiew, die sich auch als Dokumentationsstelle einen Namen gemacht hat, zählt für 2015 genau 71 Diskriminierungsfälle und Hassverbrechen auf, die aufgrund von Homo- oder Transphobie geschehen. Im Vorjahr waren es 54. Darunter sind immer auch Morde. Über die einschlägigen Dating-Portale werden vor allem schwule Männer in Fallen gelockt, überfallen, verprügelt, nicht selten umgebracht. Die Polizei interessiert sich nicht für diese Fälle.

Im März dieses Jahr konnte in Lviv aufgrund von Protesten Rechtsradikaler das von Insight geplante „Equality Festival“ nicht stattfinden, das derzeit durch die Ukraine tourt. Nach einer Bombendrohung am Austragungsort brachen die Veranstaltenden das Event ab. Vor dem Hotel bewarfen Protestierende die etwa 70 Teilnehmer*innen mit Rauchgranaten, Steinen, Feuerwerkskörpern und grüner Farbe. Die Stadt und die Polizei weigerten sich, für die Sicherheit der Teilnehmer*innen zu garantieren. Lvivs Bürgermeister Andriy Sadovy sitzt der europafreundlichen Partei Samopomich vor, die bis vor Kurzem der Regierungskoalition in Kyiw angehörte.

Es ist deshalb kein Wunder, dass trotz aller auch positiver Entwicklungen viele LGBT-Aktivist*innen der älteren Generation ausgewandert sind, die explizit Bedrohungen ausgesetzt waren. Bekanntestes Beispiel war 2015 sicher Taras Karasiichuk, Ex-Chef der Gay Alliance Ukraine, der sich im Sommer nach New York absetzte, um dort politisches Asyl zu beantragen. Er war Opfer von Überfällen und Morddrohungen. Mit ihm verließ einer der profiliertesten LGBT-Aktivisten der Ukraine das Land. Karasiichuk war es, der 2012 die Pride-Bewegung überhaupt erst ins Leben gerufen hat. Seit 2015 führt Volodymyr Naumenko die Gay Alliance Ukraine. Immerhin konnte sich die Bewegung so insgesamt erneuern. Menschen mit frischen Ideen stehen bereit und machen sich an die Arbeit.

Fazit und Ausblick

Der Kampf um die Rechte sexueller Minderheiten in der Ukraine bleibt auf absehbare Zeit schwierig. Erst wenn es gelingt, Frieden im Land zu schaffen und die nötigen Wirtschaftsreformen umzusetzen, dürfte für die Menschenrechtsarbeit ein günstigeres Umfeld entstehen. Dafür braucht die Ukraine idealerweise eine europäische Perspektive, die den Menschen Hoffnung auf eine bessere Zukunft, die Härten des laufenden Reformkurses erträglich macht. Nur so werden die LGBT-Organisationen des Landes mehr Verständnis für ihre Belange erwarten können. Für die Community selbst sind Lobbying, Mobilisierung vor allem von Ehrenamtlichen, Dialog und Sichtbarkeit wichtig, idealerweise zusammen mit einer politischen Kraft wie dem Block Petro Poroshenko, der einzigen einigermaßen LGBT-freundlichen Partei im Parlament. Gemeinsam sollten sie versuchen, das Land aus der künstlichen Wertedebatte Europa versus Ukraine zu führen; beides widerspricht sich nicht. Die Ukraine gehört zu Europa, Menschen- und Bürgerrechte gelten für alle. Politik und Zivilgesellschaft müssen deutlich Stellung beziehen, wenn es um die Gewalt rechtsradikaler Kräfte im Land geht. So könnten in den kommenden zehn Jahren entscheidende Veränderungen erlangt werden, vergleichbar etwa mit den Entwicklungen, die die EU-Beitrittskandidaten Osteuropas erlebt haben, als sie 2004 zur Europäischen Union kamen. Ob das alles tatsächlich so kommt, ist fraglich, zumal es in der Ukraine am politischen Willen fehlt, das Land tiefgreifend zu verändern. Auch der Faktor Russland bleibt unkalkulierbar. Es wird von den Aktivist*innen und den ausländischen Partnern noch viel Geduld fordern, das Land auf seinem Weg nach Europa zu begleiten.

Über den Autoren:

Conrad Breyer koordiniert von München aus für die CSD München GmbH die Partnerschaft zwischen KyivPride und dem CSD München. Er ist außerdem Mitglied der Kontaktgruppe Munich Kyiv Queer, die die Zusammenarbeit zwischen den LGBT-Communitys in Kiew und München koordiniert, und Pressereferent des Münchner Schwulenzentrums Sub. Hauptberuflich arbeitet Conrad Breyer als Redakteur und freier Journalist.

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