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PRIDEBLOG Das Recht eines jeden Ukrainers

06.06.2015 | cb — Keine Kommentare
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„Das ist ein Sieg“, sagt Conrad, der Koordinator von Munich Kyiv Queer, und strahlt. Euphorie – Vorfreude, und doch bleibt da ein Hauch von Skepsis, vielleicht eine Art Selbstschutz. Keine*r will sich jetzt zu früh freuen. Aber im Moment sieht es nach einem Sieg aus, einem Gemeinschaftssieg nach Runden.

Am Morgen zeigt sich die stellvertretende deutsche Botschafterin eher skeptisch, als wir mit ihr über die Parade sprechen. Freilich: Der Unterstützung der Botschaft können wir sicher sein und neben Deutschland haben auch Amerika, Norwegen und Schweden Unterstützungsbriefe geschrieben. Aber Vitali Klitschko, Kyiws Bürgermeister, hat gestern noch die Organisatoren des CSD öffentlich aufgefordert, die Parade am Samstag abzusagen. Ein deutliches Signal also, was die Unterstützung durch die Regierung betrifft. Und Unterstützung bedarf es unbedingt.

Wenn in einer Gesellschaft offene Homophobie ein fester Bestandteil des akzeptierten Wertesystems ist, braucht es verantwortliche Machthaber, die die Alltagsrealität so gestalten, dass sich das Denken und Fühlen der Bevölkerung verändert, sie eine neue Sicht auf die Dinge finden kann. Im Moment hat die Ukraine keine europäische Perspektive. Wozu also etwas verändern? Vor allem, da Abgeordnete, die bereit wären für das Antidiskriminierungsgesetz zu stimmen, neben Missbilligung, hunderte von Drohbriefen bekommen. „Ob unter diesen vielen Hundert nicht doch mal ein Verrückter dabei ist, der wirklich ernst macht, weiß man nie.“

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Plötzlich überschlagen sich die Ereignisse. Neue Dynamik entsteht. Lydia Dietrich, die als Vertretung der Oberbürgermeisters von München mit nach Kyiw gereist ist, betritt mit ihrem Parteikollegen Dominik Krause das Kyiwer Rathaus. Ihr Plan: Mit jemandem reden, der etwas entscheiden kann, vorsprechen für den KyivPride, den Brief des Oberbürgermeisters überreichen, der schon in der Woche zuvor als Fax an Klitschko rausging. Einen Termin haben die zwei Kommunalpolitiker nicht, sie wurden nicht eingeladen. Lydia hat sich die Fußnägel regenbogenfarben lackiert und grinst den Rathausmitarbeiter*innen freundlich und entschlossen ins Gesicht, wenn sie auf ihrer Odysee durch ein kyrillisch ausgeschildertes Rathaus immer denselben Satz wiederholt: „Does anyone here speak English?“ Im zweiten Stock findet sich irgendwann eine Investmentfirma, deren Mitarbeiterin weiterhilft. Ein Sekretär aus dem Büro des zweiten Bürgermeisters kommt und hat eine Übersetzerin im Schlepptau, die während des Gesprächs immer röter und röter wird. Der Politiker wirkt genervt und windet sich als Antwort auf die Frage: „We will be there tomorrow. Will we be safe?“ Sicherheitsfragen seien Sache der Polizei und die unterstehe der Stadt nicht. Aber natürlich gebe man alles dafür, diese Demonstration, wie jede andere, zu schützen.

Parallel ein Post von Conrad über den Pride-Verteiler: Der Polizeichef wurde entlassen. Gestern war er gegenüber Botschafter*innen und Queer-Aktivistinnen in einem Gespräch über die Parade noch extrem aggressiv und ablehnend aufgetreten. Ob das wohl die politische Antwort der Botschafter*innen war?

Der große Wendepunkt kommt am frühen Nachmittag: Petro Poroschenko, der ukrainische Staatspräsident, sagt in einer Pressekonferenz öffentlich Unterstützung für die Parade am Samstag zu. Noch nie hat er sich so klar geäußert. Es sei das Recht eines jeden Ukrainers am „March of Equality“ teilzunehmen, er sehe keinen Grund, irgendwelche Steine in den Weg zu legen. Hochstimmung bei Aktivist*innen und Sympathisant*innen.

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Am Nachmittag veranstalten ein paar Aktivist*innen einen Flashmob. Sie ziehen als Sandwichmännchen durch die Kyiwer Innenstadt. „Frag mich, warum ich zum March of Equality gehe!“ Ein mutiges und selbstbewusstes Zeichen ohne jeden Polizeischutz. Passanten sagen ihnen, dass sie Sünder sind – mehr passiert ihnen nicht.

Jetzt ist es Mitternacht. Am frühen Abend wurde in einem Kyiwer Kino noch ein queerer Film gezeigt und danach viel diskutiert. Wie es mit der Sicherheit für morgen nun genau bestellt ist, ist noch unklar. Aber Amnesty International arbeitet mit Nachdruck im Hintergrund und bis jetzt sitzen die Organisatoren noch mit der Polizei zusammen und planen die Sicherheitsvorkehrungen. Die Stimmung ist wie die kurz vor einem Fußballspiel. Vorfreude bei den einen, gemischte Gefühle bei den anderen. Vorhin kam die Mail mit den Sicherheitsinstruktionen für morgen:

„Bildet Kleingruppen – Habt eine Flasche mit Essigwasser dabei gegen Pfefferspray und Molotovcocktails – Wechselkleidung, um danach in der Stadt nicht erkannt zu werden – Masken oder Halstücher, wenn Tränengas in der Luft hängt – Schreibt euch die Nummer einer Kontaktperson auf den Arm – Bleibt danach in gemischten Kleingruppen zusammen – Sprecht mit niemandem – Haltet nicht Händchen, umarmt und küsst euch nicht und ganz wichtig: HÖRT auf die Organisatoren.“

Morgen – Treffpunkt 8:45 am Goldenen Tor, dann mit Polizeibussen an den Demo-Ort, den bis jetzt keine*r kennt. Gerade Angst, Aufregung und eine große Hoffnung: Wenn die Parade heute positiv stattfindet, könnte das mit dem Statement Poroschenkos im Hintergrund der Wendepunkt hier in Kyiw sein.

[Text: Stephanie Olbrich]

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