PRIDEBLOG Hasspropaganda auf beiden Seiten
Nicolas Hempel ist neu im Amt. Von
Martin Kade hat er das HIV-Projekt der GIZ, der
Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit in Kyiw, übernommen, bis ein Nachfolger für den Posten gefunden ist. Wir treffen uns mit Hempel im Landesbüro der GIZ am Olympiastadion. Es ist Dienstag, der 2. Juni, und wir bekommen Wasser, Kaffee und Tee.
Heute Morgen sind wir schon zu siebent von insgesamt 21 Leuten, die aus Deutschland für die Pride Week nach Kyiw reisen werden.
Naomi,
Barbara und
Sibylle waren schon beim PrePride in Mykolajiw, dem Sport- und Kulturfestival „Dunkle Nächte“ am Schwarzen Meer,
Werner und
Kerstin sind seit Sonntag in Kyiw,
Conrad und
Stephanie reisten Montag an,
Stefan fliegt gerade ein, dann kommt heute noch die Grünen-Stadträtin
Lydia Dietrich, die jetzt schon zum vierten Mal Oberbürgermeister
Dieter Reiter in Kyiw beim Pride vertritt.
Nicht, dass die Politikerin deshalb besondere Ehren genießen würde. Am Flughafen holt sie kein Vertreter der Stadt Kyiw ab. Das müssen wir schon selbst organisieren. Freundlicherweise übernimmt die
Heinrich-Böll-Stiftung in Kyiw den Transfer unserer Gäste vom Flughafen; ehrenamtliche Helfer*innen sind im Einsatz.
Wir sprechen eineinhalb Stunden lang über alle Themen, die uns unter den Nägeln brennen. Und da gibt es einige: der Krieg mit Russland, die Reformagenda der Kyiwer Regierung, die soziale Unwucht im Land, der drohende wirtschaftliche Kollaps, die schwierige Lage für sexuelle Minderheiten. Nicolas Hempel, eigentlich ein Verwaltungsfachmann, ist neugierig und will alles über unsere Arbeit wissen. Wir stellen ihm die Pride-Kooperation vor, die Projekte von
Munich Kyiv Queer, sprechen über die vorbildliche Kooperation zwischen der Kyiwer und Münchner Community, die jetzt sogar Toronto inspiriert hat, ähnliches zu wagen. Auch Toronto ist eine Partnerstadt von Kyiw.
Die Lage ist durchaus widersprüchlich: Einerseits ist das Fenster in der Ukraine für Veränderungen offener denn je. Die
Gay Alliance Ukraine zum Beispiel hat eine beispiellose Toleranzkampagne im ganzen Land plakatieren lassen, die – das zeigt eine Umfrage – auch Erfolg hat. Für den KyivPride läuft in den sozialen Netzwerken außerdem seit Wochen eine Bekennerkampagne von Journalisten, Künstlern, Musikern und ja: Politikern, die sich offen zu den Zielen des Kyiwer
Christopher Street Days bekennen: Minderheitenrechte, so heißt es da, sind Menschenrechte. Das gab es noch nie.
„In der Ukraine gibt es eigentlich viele Chancen“, sagt
Sven Stabroth vom
Centrum für internationale Migration und Entwicklung CIM, der mit am Tisch sitzt. Der Deutsche hat auf Initiative der CIM und der GIZ, namentlich Martin Kade, die Elterninitiative
Tergo aufgebaut. Eltern homosexueller Kinder klären über das Schicksal junger Lesben, Schwuler und Transsexueller in der Ukraine auf. Stabroth hat im Hotel Ukraine mitten auf dem Maidan die erste internationale Konferenz dazu organisiert. Experten und Eltern tauschten sich aus, die Presse hat berichtet. Es gab keine Gewalt, alles blieb friedlich. „Wir beobachten zum Beispiel, dass wir immer häufiger öffentliche Räume anmieten können, die eigentlich nichts mit LGBT zu tun haben“, sagt Stabroth. Immer mehr Mütter meldeten sich bei Tergo. Man kooperiere mit NGOs und Gruppen, die Diskriminierung bekämpften. „Die Vernetzung läuft. Wir stehen auf der Agenda!“
Die Hoffnung ist also groß, dass es am Samstag klappen wird mit dem
March of Equality des KyivPride, für den sich seit Dienstag in- und ausländische Gäste registrieren können. Die Veranstalter erwarten um die 150 bis 300 Teilnehmer*innen. Der Stadtrat verhält sich neutral, auch
Vitali Klitschko, Kyiws Bürgermeister. Münchens Oberbürgermeister hat ihm einen Brief geschickt, in dem er darum bittet, den Schutz der Teilnehmer*innen zu gewährleisten. Die EU-Botschaften in der Stadt haben ihre Unterstützung zugesagt. Jetzt hängt alles von der Polizei ab. Die aber, das sagen die Organisierenden, verhalte sich wie schon früher nicht eben kooperativ. Schon im vergangenen Jahr hat sie den Pride March nicht schützen wollen; stattdessen fand spontan ein Flashmob statt.
Die Polizisten hatten 2014, und da kommen wir zur weniger hoffnungsvollen Seite der Geschichte, Angst vor den gewaltbereiten Gegnern des KyivPride: den Nationalisten, den Orthodoxen, den frustrierten Heimkehrern von der Front im Osten. In der Stadt kursierten Waffen. Mögen die radikalen Kräfte im Parlament keine Rolle spielen, auf der Straße mobilisieren sie sich bis heute. Schon am Montagabend, als die Veranstalterinnen und Veranstalter den KyivPride in der norwegischen Botschaft mit einem offiziellen Empfang eröffneten, hatten die rechtsradikale Partei
Swoboda und der militaristische
Rechte Sektor Gegenwehr angekündigt. Die Polizei rückte an. Was wird Samstag passieren?
Insider gehen davon aus, dass Swoboda und Rechter Sektor aufmarschieren werden. Immerhin, so heißt es, wolle sich das Freiwilligen-Bataillon
Asow neutral erhalten. Asow kämpft im Osten der Ukraine gegen die Separatisten. Beide Gruppen sind von Nazis durchsetzt; beide nutzen die Hasspropaganda auf ihre Weise.
Homo- und Transsexualität sind der Ukraine seit jeher ein Reizthema. Die wenigsten wissen Bescheid, was es damit auf sich hat, glauben an einen westlichen Lebensstil, wo es um gleichgeschlechtliche Liebe geht und propagieren traditionelle Familienwerte. Da schenken sich Russland und die Ukraine nicht viel – außer dass die Ukraine Homophobie nicht auch noch staatlich fördert. Hier gibt es kein Propagandagesetz, allerdings auch keinen Schutz vor Diskriminierung. Die ukrainisch-orthodoxe Kirche (Kyiwer Patriarchats) beispielsweise will zwar unbedingt nach Europa. Die Länder der EU aber will sie vom Übel der gleichgeschlechtlichen Ehe befreien. Dafür habe der schwache Westen keine Kraft.
Wir verlassen die GIZ. Nicolas Hempel wünscht uns für Samstag viel Glück und wir machen uns auf zu
Insight, einer Organisation, die sich um Transleute und Lesben kümmert. Unser Gastgeber
Yuri Frank empfängt uns mit einem Film-Team.
Lorenz Kloska und
Sascha Vinogradov, beide Mitglieder von Munich Kyiv Queer, drehen am zweiten Teil ihres Dokumentarfilms, der den Titel „Rein ins Leben“ tragen wird. Wir nehmen im Wohnzimmer Platz. Die alten Schränke sind vollgestopft mit Papieren und Katalogen, in der Ecke steht ein alter Rechner auf einem wackligen Tisch. In zwei weiteren Zimmern sind Büros untergebracht; eine Küche gibt es auch. Um zu Insight zu kommen, muss man den Türcode wissen und die Wohnungsnummer. Es gibt kein Firmenschild am Eingang.
Wir sprechen über die Projekte der Organisation. Yuri war erst vor zwei Wochen in München, um an der Trans*tagung teilzunehmen. Er wirkt wie immer erschöpft, von der Arbeit ausgelaugt. Der Transmann berichtet über die ukrainische Trans-Gesetzgebung, die uns deprimiert. Es braucht 15 Minuten, um zu erzählen, was Transfrauen und -männern in der Ukraine blüht, wenn sie sich entscheiden, konsequent zu sich selbst zu stehen. Ein Arzt muss sie in eine geschlossene Anstalt überweisen, sie müssen sich einer Kommission stellen, dann Zwangssterilisation und Operation überstehen, bevor sie überhaupt ihre Papiere ändern lassen können. Das kostet nicht nur Geld und Zeit – das Prozedere kann Jahre dauern – die Betroffenen sind danach oft seelische Wracks.
Yuri selbst ist den Weg so konsequent nicht gegangen; sein Pass trägt noch den alten Namen. Bei Insight hat er eine Heimat gefunden, die ihm Halt und Identität gibt. Kürzlich hat er in Straßburg am Gerichtshof für Menschenrechte eine Rede auf Englisch gehalten; es war gut. Er geht jetzt selbstbewusster an die Sprache ran.
Wie die Elterninitiative Tergo will Yuri mit Insight eine Trans*Konferenz in Kyiw abhalten. Für Oktober haben schon viele Ärzte und Experten zugesagt. Auch mit dem Gesundheitsministerium sind sie endlich in Kontakt. Das war unerwartet und stimmt alle hoffnungsfroh. Wir überlegen, ob wir nicht auch einen Beitrag aus München leisten können und schlagen vor, Anselm Skogstads Ausstellung „Untitled Pride“ nach Kyiw zu bringen, die Transleute in der Transition zeigt. Das findet Yuri interessant. „Es wäre eine gute Ergänzung zu unserem Programm.“
Große Hoffnungen auf schnelle Veränderungen macht sich Yuri freilich nicht. Dafür hat er einfach zu viele schlechte Erfahrungen gemacht. Es wäre ja schon ein Wunder, wenn am Samstag der Pride-Marsch stattfinden könnte. Bis dahin will Yuri von einer Workshop-Woche in der Westukraine wieder zurück sein.
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