LGBT in der Ukraine 2014/2015 – aus Verzweiflung wird Hoffnung!
Die Menschenrechtsorganisation
Nash Mir aus Kyiw hat ihren Jahresbericht zur Lage sexueller Minderheiten in der Ukraine vorgestellt. Der Europa-Kurs der Regierung, so die These, lasse auf mehr Rechte hoffen. Tatsächlich aber hat sich die Situation für lesbische, schwule, bi- und transsexuelle Menschen (LGBT) weiter verschlechtert.
Über 30 Seiten umfasst der
Report, den Nash Mir vor wenigen Tagen veröffentlicht hat. In allen Details führt er auf, wie es um die Situation von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgender in der Ukraine steht – wie sich Justiz, Politik, Medien, Kirchen und Gesellschaft dazu stellen, wo es zu Diskriminierung und Gewalt gekommen ist und natürlich spielt auch das Leben der sexuellen Minderheiten in den besetzten Gebieten eine Rolle. Das Ergebnis ist schnell zusammengefasst: Es gibt Hoffnung, aber im Grunde ist die Lage desolat.
Die im Bericht dokumentierten 54 Diskriminierungs- und Gewaltfälle gegenüber Betroffenen, darunter im Herbst der Brand im
Zhowten-Kino in Kyiw, in dem einen queeres Filmfestival gastierte, wenig später der Überfall auf einen Club in Odessa, in dem ein Drag Queen Contest stattfand, die Untätigkeit der Polizei, dezidiert homofeindliche Aussagen von Politikern wie
Vitali Klitschko, dem Bürgermeister von Kyiw, sind dafür nur die augenfälligsten Belege. Homophobie ist in der ukrainischen Gesellschaft weit verbreitet und prägt den Alltag vieler Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgender. Außer den LGBT-Aktivistinnen und -Aktivisten richten sich die meisten im Privaten ein und versuchen, nicht weiter aufzufallen.
Natürlich, so Nash Mir, berge der Europa-Kurs der Regierung auch Chancen. Sämtliche Gesetze gegen so genannte Gay Propaganda, wie es sie in Russland gibt, sind mit den jüngsten Parlamentswahlen in der Ukraine obsolet geworden. Diskutiert wird nun sogar ein Antidiskriminierungsgesetz, das sexuelle Minderheiten am Arbeitsplatz schützen soll. Die EU will es, bevor die Visumspflicht für die Ukraine fällt. Bislang ist es der Regierung aber stets gelungen, den Schutz vor Diskriminierung aufgrund sexueller Orientierung und Gender-Identität aus dem Gesetz herauszuhalten. 36,6 Prozent aller Ukrainerinnen und Ukrainer zwischen 15 und 59 Jahren lehnen einen Diskriminierungsschutz ab; das zeigt eine Umfrage der
GfK Ukraine vom Dezember 2014. 34,4 Prozent waren dafür und 29 Prozent unentschlossen.
Ohne Schutz herrscht Willkür. Nicht selten werden geoutete Mitarbeiter am Arbeitsplatz und in der Schule Opfer von Mobbing, haben offen lebende Schwule und Lesben Schwierigkeiten, eine gemeinsame Wohnung zu finden, in Ladengeschäften bedient sie das Personal nicht. Noch mehr Probleme haben Transgender, die während der Transitionsphase noch ihren alten Namen im Pass tragen. Sie trauen sich aus Angst vor Demütigungen und Übergriffen oft nicht auf die Straße.
Auf der annektierten Krim gelten übrigens die russischen Propagandagesetze, in den „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk ist Homosexualität verboten. Die Kyiwer LGBT-Organisation Insight hat für Flüchtlinge aus dem Osten und von der Krim Schutzunterkünfte eingerichtet.
Die politischen Parteien tun sich nach wie vor schwer mit dem Thema. Selbst vermeintlich europäische Politikerinnen und Politiker treten homophob auf oder verweisen auf traditionelle Familienwerte. So hat die neu gegründete Partei
Democratic Alliance den LGBT-Aktivisten
Bogdan Globa, Chef der Organisation Fulcrum, mit der Begründung abgelehnt, man sei eine christdemokratische Vertretung. Einzig die Partei des ukrainischen Präsidenten, der
Block Petro Poroschenko, verurteilt dezidiert Diskriminierung und Gewalt gegenüber sexuellen Minderheiten. Sie ist die stärkste Fraktion im Parlament. Den Worten sind noch keine Taten gefolgt.
Bemerkenswert sind Aussagen der ukrainisch-orthodoxen Kirche (Kyiwer Patriarchat), die sich in Abgrenzung zur „russischen Welt“ zu den Zielen des Maidan und Europa bekennt. Sie sagt allerdings, sie werde Europa insofern bereichern, als sie die Länder des Westens von dem Übel der gleichgeschlechtlichen Ehe befreie. Dafür hätten die westlichen Gesellschaften alleine keine Kraft. Die ukrainisch-orthodoxe Kirche Moskauer Patriarchats – die ukrainisch-orthodoxe Kirche ist seit der Unabhängigkeit des Landes im Jahre 1991 gespalten – hält gleichgeschlechtlichen Ehen im Übrigen ebenfalls für eine Sünde, lehnt aber eine Europäisierung der Ukraine unter anderem aus diesem Grund ab. Immerhin treten die Kirchen nicht mehr so aggressiv auf wie in den vergangenen Jahren. Beim KyivPride 2013 hatten sie noch ihre Anhänger mobilisiert, um gegen die Demonstrantinnen und Demonstranten vorzugehen – durchaus auch mit körperlichem Einsatz.
Eine positive Entwicklung bescheinigt Nash Mir den ukrainischen Medien, die immer neutraler über LGBT berichten. Die neue Pressefreiheit führe zu Offenheit und mehr Differenziertheit im Umgang mit dem Thema.
Natürlich überdeckt der Krieg sämtliche Bereiche im Land, auch die Arbeit der vielen LGBT-Organisationen. Das hat auch wirtschaftliche Gründe. Weil Geldgeber neue Prioritäten setzen und die Währung verfällt, fehlt es den Vertreter*innen der Zivilgesellschaft nun plötzlich an Geld, um ihre Projekte zu finanzieren. So zieht sich der
Global Fund aus der HIV-Prävention im Land zurück. Gleichzeitig mangelt es nicht an Engagement und Ideen. Mit
T-ema ist die erste rein transgender-orientierte Initiative entstanden; unter dem Namen
Tergo existiert inzwischen auch eine Gruppe für Eltern, die sich für die Rechte ihrer homo-, bi- und transsexuellen Kinder stark machen. Ihre Themen macht die Community mit dem
National LGBT-Portal of Ukraine (NGO
Fulcrum) und der Website der Organisation
Gay Alliance Ukraine sichtbar. Es liefen Antidiskriminierungskampagnen, es gibt neuerdings eine LGBT-Hotline. Auch der
KyivPride soll 2015 wieder stattfinden.
„Akzeptanz gegenüber LGBT ist eines der wichtigsten Merkmale moderner, westlicher Gesellschaften“, sagen
Andrii Kravchuk und
Oleksandr Zinchenkov, die den Jahresbericht verfasst haben. Das unterscheide diese Gesellschaften von den autoritären Ländern, die Russland anführe. Ihre Schlussfolgerung: „Auf dem Weg nach Europa führt nichts an einer sozialen und rechtlichen Einbindung sexueller Minderheiten vorbei.“ Um die Ukraine dabei zu unterstützen, geben die Autoren konkrete Empfehlungen an die Regierenden ab, etwa die Verabschiedung eines Antidiskriminierungsgesetzes und die Einführung einer registrierten Partnerschaft. Sie fordern Aufklärung in der Schule und Behörden und einen humaneren Umgang mit Transgender. Denn entweder es gelinge, das Land zu reformieren, oder die Europäisierung der Ukraine sei gescheitert.
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