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Podiumsdiskussion in der Black Box: „Menschenrechte sind kein Luxusproblem!“

03.10.2014 | cb — Keine Kommentare
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Sie kommen immer zuletzt! Lesben, Schwule und Transgender in der Ukraine setzen – wie das ganze Land –  alle Hoffnungen auf Europa, doch leicht machen es ihnen EU und Regierung nicht. Dabei sind Menschenrechte für die gesamte Ukraine gut und wichtig! Das war der Tenor einer Debatte, zu der CSD München, Munich Kyiv Queer und die Stadt München am 1. Oktober 2014 in die Black Box des Münchner Kulturzentrums Gasteig geladen hatten.

Auf dem Podium, das Sibylle von Tiedemann von Munich Kyiv Queer im Rahmen der von ihr  kuratierten Veranstaltungsreihe ‚“Kein Recht, sie selbst zu sein“ zusammengestellt hatte, saßen Evgenij Zacharow, ein alter Dissident und Vorsitzender der Helsinki-Gruppe für Menschenrechte in der Ukraine, Anna Dovgopol, Programmkoordinatorin für Geschlechterdemokratie, Frauen- und LGBT-Rechte bei der Heinrich-Böll-Stiftung in Kyiw, Bogdan Globa, Chef der LGBT-Organisation Fulcrum, der als erster bekennender Homosexueller überhaupt im ukrainischen Parlament gesprochen hat, und Oleksandra Bienert von PRAVO Berlin Group for Human Rights in Ukraine. Die Moderation hatte der LMU-Lehrbeauftragte Peter Hilkes inne vom Arbeitsforum Ukraine. Das Thema: Ukraine – Menschenrechte in Zeiten des Umbruchs?!

Zweifelsohne dominierte der Krieg im Osten des Landes die Debatte in weiten Teilen. Die 40 Zuhörerinnen und Zuhörer, die es trotz des Oktoberfestes und des schlechten Wetters in die Black Box geschafft hatten, bekamen von Zacharow und Bienert einen umfassenden Einblick in die Geschehnisse im Osten und Süden der Ukraine. Beide wollen von einer Ukraine-Krise nichts wissen. „Es ist eine Russland-Krise, die wir hier beobachten“, sagt die Menschenrechtsaktivistin Oleksandra Bienert.

Schnell kamen die üblichen Themen zur Sprache, die seit Monaten die Öffentlichkeit in ganz Europa beschäftigen: das Assoziierungsabkommen mit der EU, die Korruption, die anstehenden Reformen im Justiz-, Wirtschafts- und Verwaltungswesen, die Sanktionen des Westens, die russische Propaganda, die Fortschritte der Zivilgesellschaft.

Welche Rolle aber spielen die Menschenrechte in der heutigen Ukraine? Anna Dovgopol sprach von der Situation der Frauen in der patriarchalisch und religiös geprägten ukrainischen Gesellschaft, die selbst auf dem Maidan nur Brote schmieren und beten sollten. Dabei haben sich viele Frauen an vorderster Front an der Revolution beteiligt, auch Lesben übrigens. Oleksandra Bienert hatte sich in ihrer Ansprache auf die Zivilgesellschaft konzentriert und ihre Erfolge. Es gebe immer mehr relevante Gruppierungen und Ziele, die sie verfolgten. Bogdan Globa schließlich redete über die Situation für Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender (LGBT).

Und da nun gibt es Kritisches zu vermelden. Denn nicht nur ist der Gesetzentwurf über die so genannte Gay Propaganda noch immer im Parlament anhängig – er spielt im Moment zwar keine Rolle mehr und dürfte mit den Neuwahlen am 26. Oktober aus dem regulären Gesetzgebungsprozess ausscheiden, wenn er nicht neu eingebracht wird. „Mich beschäftigt aber das geplante Antidiskriminierungsgesetz“, sagt der Aktivist Globa.

Das soll die Menschen im Land vor jeglicher Benachteiligung schützen, seien sie religiös, ethnisch oder sonstwie begründet. Das Merkmal „Sexuelle Orientierung und Gender-Identität“ ist allerdings äußerst umstritten. Bislang konnte sich das Parlament, das in diesem Fall gerne dem Druck der Straße nachgibt, nicht dazu durchringen, diese soziale Gruppe im Gesetz zu berücksichtigen. Die EU hat zwar ebenfalls Druck gemacht – das Antidiskriminierungsgesetz ist Bedingungen für die Implementierung des Assoziierungsabkommens und die Befreiung des Landes von der Visa-Pflicht. „Doch hat die EU mit sich handeln lassen“, sagt Globa. Sie habe sich von den Politikern seines Landes an der Nase herumführen lassen mit der Begründung, ein solcher Passus führe zu Aufständen in dem ohnehin schon vom Krieg geschwächten Land. So also ist bis heute ein Antidiskriminierungsgesetz in Kraft, dass sexuelle Minderheiten nicht explizit schützt.

Mit den europäischen Werten sei es in der Ukraine also nicht weit her, sagt Bogdan Globa, da müsse die Zivilgesellschaft noch viel Überzeugungsarbeit leisten. Er selbst habe zum Beispiel versucht, der neu gegründeten Demokratischen Partei beizutreten. „Sie haben mich abgelehnt, weil ich offen als LGBT-Aktivsit auftrete.“ Globa hat Anzeige erstattet und wartet nun auf das Ergebnis.

Dieser PR-Gag zeigt, wie diffus die Vorstellung davon ist, was „europäisch“ sei. Die EU versteht sich als Wertegemeinschaft, die für Menschen- und Bürgerrechte einsteht. „Für viele Bürgerinnen und Bürger in der Ukraine aber bedeutet ‚europäisch‘ bessere Lebensverhältnisse, gute Straßen, auch die Bekämpfung der Korruption, das Ende der sowjetischen Nomenklatura“, sagt Oleksandra Bienert.

Lesben und Schwule gehören aber nicht unbedingt dazu. Selbst die Helsinki-Gruppe nimmt sich in der Ukraine erst seit Kurzem Menschenrechtsverletzungen an, die Lesben, Schwule und Transgender betreffen.

Ein Zuhörer fragt, ob das denn nun wirklich alles nötig sei. Schließlich bräuchten die Menschen in der Ukraine, allen voran in den Krisengebieten, doch sicher einfach etwas zu essen und zu trinken. Menschenrechte als Luxusproblem? Für den sozialen Frieden im Land, so Bienert, sei ein gesellschaftlicher Ausgleich unabdingbar, denn „die ukrainische Gesellschaft hat sich noch mehr radikalisiert mit dem Krieg“. Zacharow erzählt von Politikern, die angegriffen, in Mülleimer gesteckt werden; er weiß von der Zunahme der Gewaltbereitschaft, vom fehlenden innerukrainischen Versöhnungswillen. „Vieles ist Selbstjustiz.“ Das alles ist die Aufgabe der Zivilgesellschaft, so Bienert. „Menschenrechte sind deshalb nötiger denn je“ und zwar für alle Ukrainerinnen und Ukrainer – unabhängig von Geschlecht, Glauben, Ethnie oder sexueller Orientierung.

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