Odessablog: Kreative aller Länder
Jetzt rennen sie alle rum und werkeln.
Vitalik, der gestern in der Vorstellungsrunde noch keinen Pieps von sich gegeben hat, bemalt jede leere Pizzaschachtel, derer er habhaft werden kann. Auch
Olhya und
Nika haben ihre Scheu abgelegt: Während sie mit Workshop-Leiterin
Naomi Lawrence sprechen, halten die zwei Frauen sich in den Armen. Sogar
Vlad, der eigentlich die ganze Zeit nur alles schwierig findet, hat ein Bild gemalt: eine ukrainische Flagge, zusammengesetzt aus zwei Dreiecken. Die politische Situation im Land beschäftigt auch die LGBT-Aktivistinnen und -Aktivisten.
„Die blühen richtig auf“, sagt Naomi. Sie hat heute an diesem Samstag gegen elf Uhr mit ihrem Workshop begonnen. Es gab eine theoretische Einführung. „Da waren alle noch sehr passiv“, sagt
Bethel Fath, die den Workshop von Naomi mit ihrer Kamera begleitet. Bethel ist Fotografin. Sie alle sind Teil der Gruppe
Munich Kyiv Queer, die wir dieser Tage in Odessa sind, um die Zusammenarbeit zwischen der Kyiwer und Münchner LGBT-Community zu erweitern.
In der ersten Praxis-Runde mussten alle mit Acrylfarben ein Bild malen – manche haben das mehr, andere weniger gern gemacht. Was daraus geworden ist, kann sich allerdings sehen lassen: Neben der ukrainischen Flagge von Vlad hängen da nun eine Regenbogenfamilie an der Wand, eine Regenbogenflagge mit Tiger, ein Chamäleon.
Nina Verbytska, die das
Queer Home hier leitet und es heute Morgen in ein Atelier verwandelt hat, hat ihrer Liebe zu München Ausdruck verliehen. „Ich vermisse die Stadt“, sagt die Aktivistin. „Die Leute lachen viel, was uns Ukrainer immer wundert.“ Sie lächelt. „Es herrscht dort eine ganz besondere Atmosphäre.“
Es ist – wie gestern – furchtbar heiß heute in Odessa. Um die 40 Grad sind es. Das Queer Home liegt in einer der ältesten Stadtviertel; hier fahren die Autos noch auf Pflastersteinen aus der Gründungszeit Odessas.
Katharina die Große, Zarin von Russland, hat die Hafenstadt Ende des 18. Jahrhunderts bauen lassen; ihr erster Statthalter war
José de Ribas. Die Straße, die nach ihm benannt ist, ist heute eine beliebte Fußgängerzone mit Shops und Cafés. Sie liegt nicht weit vom Queer Home entfernt, wo es jetzt Wassermelone gibt. Das erfrischt.
Nach der ersten Praxisphase mit den Bildern geht es jetzt um kreativen Protest. Eben hat Naomi auf ihrem Beamer gezeigt, mit welch einfachen Mitteln sich auf künstlerische Weise Unmut formulieren lässt – da kommen die Pappkartons ins Spiel. Kartons liegen in einer Stadt überall herum, lassen sich bemalen, beliebig falten und mit Botschaften beschriften. Die Gruppe hat Ideen gesammelt für einen Flashmob am Sonntag.
Schnell kommt vieles zusammen. Vitalik und seine Freunde schneiden eine Spritze aus Karton aus. Es soll eine Giftspritze werden, ein Protest gegen die Umweltverschmutzung hier im Hafen. Aus den Pizzakartons sind Verkehrsschilder geworden. Sie zeigen durchgestrichene Fahrräder – ein Protest gegen die wenigen Radwege im Zentrum. Naomi und Stas fertigen einen Papp-Fernseher, der in den Farben der russischen Flagge angemalt wird. Er soll am Sonntag die Propaganda des
Putin-Regimes bloß stellen. Herr P., vom Münchner CSD eingeflogen, schaut dabei zu.
Wenige Straßenblöcke weiter tagt zur selben Zeit ein anderer Workshop.
Barbara Lux, Mitfrau von Munich Kyiv Queer, leitet ihn zusammen mit ihrer Münchner Band
Sally Rides.
Maria Cinquotta ist hier, die Sängerin,
Julia Kopec, die Drummerin. Die drei haben viel Erfahrung mit
Rock Camps – speziell für Frauen. Die Bewegung, einst in den USA entstanden, bringt meist Laien zusammen, die innerhalb weniger Stunden gerade so viel lernen, um mit einem eigenen Song vors Publikum zu treten. Rock Camps stärken die Community, das Selbstbewusstsein der einzelnen Musiker*innen und überwinden kulturelle Grenzen. „Wir wollen auch in Odessa den Samen für eine solche Bewegung säen“, sagt Barbara. Sie hat deshalb eine PA mit nach Kyiw gebracht, die die Münchner Community der Szene vor Ort spenden will. Am Abend wird sie Munich Kiev Queer Nina Verbytska überreichen. Sie soll im Queer Home stehen und jederzeit für Jam-Sessions und Rock Camps zur Verfügung stehen.
Fünf Leute sind da. Im
Rainbow Club, einem offenen Freizeit-Club für die Community mit Bar, lernen sie, Akkorde zu greifen, notieren sich Vocals für ihren Song und schlagen die Cajons. Ursprünglich hatten sich um die zehn Leute für den Musik-Workshop interessiert. Weil der Club aber zwei Stunden später als geplant geöffnet hatte, ist die Hälfte nicht wiedergekehrt. Ähnlich wie im Queer Home aber gilt: Fünf Leute bekommen eine intensivere Betreuung als zehn und die Arbeit macht allen Teilnehmenden sichtlich Spaß.
Denis singt. Er kann wegen einer Behinderung schwer stehen, aber er ist tapfer. Selbstbewusst tritt er vor das Mikrofon. „Ich kann das gut“, sagt er.
Tanja, die nach dem CSD im Juli schon in München beim Rock Camp für Frauen war, spielt Bass,
Viktoria Cajon. Auch Viktoria war schonmal in München – als Gast des
Lesbenfrühlingtreffens im Mai 2013. Dann sind da noch
Kolja und
Jewgenija, beide singen.
Spät am Abend werden sie für die Community in Odessa ein Konzert mit dem einstudierten Song geben. Es wird ein Erfolg, vor einem kleinen, aber engagierten Publikum. Danach bieten wir noch ein bisschen offene Bühne. Jede und jeder im Rainbow Club darf nochmal spielen oder singen. Kolja macht Karaoke und gibt die
Conchita Wurst. Denis singt ukrainische Schlager und Jewgenija präsentiert ihren Lieblingssong von
Coldplay, Magic. Die Zugabe liefert Sally Rides und ein großartiger Tag geht zu Ende. Alle sind erschöpft, aber glücklich und zu Tränen gerührt.
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