Leben unter Explosionen: Angelinas Geschichte von Krieg, Angst und Hoffnung

Angelina, eine 20-jährige Studentin aus der Ukraine, erzählt uns von ihrem Leben im Krieg. Sie hat ständig Angst um ihre Lieben und nicht mehr viel Hoffnung für die Zukunft. Unsere Kolumnistin Iryna Hanenkova hat ihre Geschichte aufgeschrieben.

Hallo, ich bin Angelina. Ich bin 20 Jahre alt und polysexuell. Ich studiere in Kyjiw, aber ich bin nicht von hier. Ich möchte euch heute erzählen, wie sich die russische Invasion auf mein Leben ausgewirkt hat.

Ich komme also aus einer kleinen Stadt, und zu Beginn des Kriegsausbruchs schlief ich friedlich und ahnungslos in meinem Bett. Aber bald wachte ich durch eine Explosion auf. Meine Mutter kam in mein Zimmer und stellte trocken fest: „Der Krieg hat begonnen.“

Kurz zuvor wollten wir in den Westen ziehen, um einem potenziellen Angriff weniger ausgesetzt zu sein, aber aus irgendeinem Grund zögerten wir die Abreise immer wieder hinaus. Gleich am ersten Tag wurde der Flugplatz in meinem Ort in die Luft gesprengt, und die Bahngleise waren blockiert, so dass man nirgendwohin fliehen konnte. Am nächsten Tag wurden die üblichen Ein- und Ausgänge der Stadt vermint. So kam es, dass die Russen praktisch kurz davor waren, nach Kyjiw zu gelangen. Die Armee kam jeden Tag näher und näher. Es war beängstigend. Sehr beängstigend. Die ganze Zeit gab es Explosionen und Luftabwehr.

Photo of the queer war victim Angelina from Kyiv.

Wir versteckten uns und schliefen im ungeheizten Badezimmer, indem wir das Fenster mit Ziegeln und Brettern blockierten. Da das Haus aus Holz war, bot es keine Sicherheit, nur das Badezimmer aus Stein. Normalerweise wären wir in den Keller gegangen, aber der war alt, und es bestand Gefahr, dass er beim kleinsten Windhauch zusammenbrach. Außerdem war es dort kalt, und ich wollte nicht krank werden, denn außer mir und meinen Eltern gab es noch eine kleine Schwester, um die ich mich zu kümmern hatte.

Außerdem wurden in den ersten Tagen alle Lebensmittel aus den Geschäften weggekauft. Es gab ständig lange Schlangen. Ich erinnere mich, wie ich mit meinem Vater in den Supermarkt ging. Da es keine Verkehrsmittel gab, fuhren wir um 6 Uhr morgens los, um um 7 Uhr im Laden zu sein, und als wir dort ankamen, war man bereits der Zehnte in der Schlange, obwohl der Laden erst um 11 Uhr öffnete.

Oder die Warteschlangen für Milch im Supermarkt, wo man zwei Stunden lang für einen Liter Milch anstand. Es war hart, aber im Grunde haben wir dann doch alles bekommen, was wir brauchten.

Natürlich wardas Stress. Man achtet ständig darauf, was draußen vor sich geht. Jetzt kann ich nicht anders, als mich vor Donner und Blitz zu fürchten, ebenso wie vor Feuerwerk, das mir unangenehme Flashbacks beschert.

Meine Gefühle, mein Leben

Ich empfinde auch Panik und Angst, wenn ich Flugzeuge oder Hubschrauber höre oder sehe, denn es besteht immer die Möglichkeit, dass es der Feind ist. Und das ist beängstigend.

Was meinen psychischen Zustand angeht, so war ich schon vor dem Krieg depressiv, aber seit Beginn der Invasion ist alles noch schlimmer geworden. Ich bin ständig gestresst und habe Angst um mein Leben und das der Angehörigen. Zum Glück sind alle meine engsten Verwandten noch am Leben, aber ich möchte mir nicht vorstellen, was passieren würde, wenn sie nicht mehr da wären.

Ich habe große Angst um meinen Vater und die Verwandten, die eigentlich im wehrfähigen Alter sind. Sie können jederzeit einberufen werden. Im besten Fall ist es ein schneller Tod, im schlimmsten Fall ist es ein Leben als Krüppel, zumindest geistig, zusätzlich zum körperlichen. Es besteht die Chance, dass euer Vater, euer Freund, euer Bruder oder euer Onkel lebendig aus dem Krieg zurückkehrt, aber sie werden nicht als dieselben zurückkehren. Nie wieder. Denn Krieg verändert wirklich, er zerstört.

Es ist unter diesen Umständen schwierig, Pläne für die Zukunft zu machen und Ambitionen zu haben, wenn es vielleicht kein Morgen gibt. Deshalb lautet meine meistgehasste Frage: „Wo sehen Sie sich in fünf Jahren?“. Die Antwort ist einfach: „Nirgendwo. Ich kann es nicht sehen. Ich kann es nicht sehen“. Und das ist wirklich beängstigend.

Ich möchte mehr mit meinen Lieben zusammen sein. Ich möchte die Momente schätzen. Aber nicht jede*r hat die Möglichkeit dazu. Viele Menschen sind ins Ausland gegangen, und ja, das ist traurig.

Ich weiß nicht, ob das alles ein Ende hat und wann der Krieg zu Ende sein wird, aber ich hoffe, dass es bald sein wird. Denn jeder Tag ist ein verlorener Tag, verlorenes Leben. Zu Unrecht ruiniert wegen der Launen eines Esels und seiner Vasallen. Aber wir sind Ukrainer*innen, wir sind stark, also glaube ich, dass wir alles schaffen können. Wir können es schaffen!

So könnt Ihr helfen

EINZELFALLHILFE Munich Kyiv Queer unterstützt mit einer eigenen, privaten Spendenaktion über www.paypal.me/ConradBreyer die Menschen in der Ukraine, die in Not oder auf der Flucht sind. Denn nicht alle sind an ukrainische LGBTIQ*-Organisationen (s.u.) angebunden. Die Hilfe ist direkt, schnell und gebührenfrei, wenn Ihr auf PayPal die Option „Für Freunde und Familie“ wählt. Wer kein PayPal hat, kann alternativ an das Privatkonto von Conrad Breyer, Sprecher Munich Kyiv Queer, IBAN: DE42701500000021121454, Geld schicken.

Wir helfen unsere Freund*innen und Partnern. Alle Gesuche aus der Community werden in Zusammenarbeit mit unseren queeren Partner-Organisationen in der Ukraine akribisch geprüft. Können sie selbst helfen, übernehmen sie. Übersteigen die Anfragen die (finanziellen und/oder materiellen) Möglichkeiten der LGBTIQ*-Organisationen, sind wir gefragt.

HILFE FÜR LGBTIQ*-ORGANISATIONEN Wir haben zum Schutz von LGBTIQ* aus der Ukraine das Bündnis Queere Nothilfe Ukraine mitgegründet. Ihm gehören um die 40 LGBTIQ*-Organisationen in Deutschand an. Sie alle haben ganz unterschiedliche Kontakte in die Ukraine und sind bestens vernetzt mit Menschenrechtsorganisationen vor Ort, die Gelder für die Versorgung oder Evakuierung queerer Menschen brauchen. Spendet hier

Fragen? www.MunichKyivQueer.org/helfen

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