„Jeder Tag bringt mehr Selbsterkenntnis“
Anastasia, 25 Jahre alt, Feministin und pansexuell, hat die Invasion der Russen in Lwiv erlebt. Sie floh nach Polen und Deutschland. Hier fand Anastasia ein offeneres Umfeld vor als in der Ukraine, wo Frauenfeindlichkeit und gesellschaftliche Normen Vielfalt oft ersticken. Trotz des Krieges beobachtet sie jetzt einen Wandel in der Haltung gegenüber queeren Menschen in der Ukraine. Unsere Kolumnistin Iryna Hanenkova hat ihre Geschichte aufgeschrieben.
Mein Name ist Anastasia, ich bin 25 Jahre alt, eine stolze Feministin und pansexuell. Als die Russen ihre Invasion begannen, waren wir in Lwiw. Mit meinen drei engsten Freund*innen verbrachten wir die ersten drei, vier Tage in einer gemieteten Wohnung, wo wir uns ein provisorisches Bett im Flur aufbauten, aber natürlich kaum schliefen vor Angst.
Wir sammelten allerdings gleich Spenden, halfen Militärangehörigen beim Einkaufen und verteilten Kuscheltiere an Kinder, die in nahe gelegenen Sporthallen mit ihren Müttern Zuflucht gesucht hatten. Wir machten uns auch daran, den Keller eines nahe gelegenen Bunkers zu entrümpeln, und entdeckten dabei einen Vorrat an alten Apothekerflaschen, die wir kurzerhand ins Museum brachten. Da ich damals keine feste Anstellung hatte, widmete ich mich ganz und gar diesem Ehrenamt.
Wir haben unser Bestes getan, um zu helfen
Dann flohen wir. Am 5. März standen meine Freundin und ich am Grenzübergang nach Polen und ertrugen die Kälte zehn Stunden lang ohne Zelt, Heizung, Toiletten oder Lebensmittel.
Als wir am Abend in einem großen Lager ankamen, fanden wir endlich Ruhe, wärmten uns auf und tankten neue Energie. Obwohl uns ein polnischer Freiwilliger freundlicherweise eine Unterkunft in Lublin für die Nacht anbot, zögerten wir, weil uns alle möglichen Leute vor möglichen Betrügern gewarnt hatten, und lehnten höflich ab.
Auf dem Weg nach Deutschland
Unsere Reise war voller Herausforderungen, von überfüllten Zügen in Polen und Deutschland bis hin zum Chaos inmitten von Warteschlangen, in denen sich Schwarzhändler tummelten. Wir ließen uns nicht unterkriegen. In Berlin angekommen munterte uns der Anblick deutscher Reporter*innen auf, die uns mit ukrainischen Flaggen begrüßten.
Nachdem wir ein paar Tage in der deutschen Hauptstadt verbracht hatten, fuhren wir nach Köln weiter, wo wir dank Beziehungen eine Woche lang vorübergehend Unterkunft fanden, bevor wir uns in einer Wohngemeinschaft einrichteten. Im August 2022 mietete ich schließlich ein Zimmer an. Nach eineinhalb Monaten kehrte meine Freundin in die Ukraine zurück, und ich musste mich allein in der neuen Umgebung zurechtfinden.
Als ich am 3. Juli zum ersten Mal am Kölner CSD teilnahm, war das ein einschneidendes Erlebnis. Die Atmosphäre von gegenseitigem Respekt, Liebe und Solidarität war überwältigend. In Deutschland habe ich ein Maß an Offenheit und Akzeptanz erlebt, das ich in der Ukraine vermisse. Die allgegenwärtige Frauenfeindlichkeit und Selbstverleugnung unter ukrainischen Frauen, gepaart mit dem Festhalten an patriarchalischen Normen, steht in krassem Gegensatz zu dem integrativen Umfeld, das ich im Ausland vorfand.
Ich habe meine Herde gefunden
Als ich im Sommer 2023 in die Ukraine zurückkehrte, fand ich meine Community zwar wieder, aber fast nur in den sozialen Medien. Wir waren weniger geworden. Gleichzeitig gewannen queere Themen an Sichtbarkeit, auch Fälle von Gewalt fanden in den Medien Beachtung, was einen langsamen, aber bedeutenden Wandel signalisiert.
Meine Zeit im Ausland war durch tiefe Depressionen und zahlreiche wirtschaftliche und bürokratische Hindernisse geprägt, die darin gipfelten, dass ich mein Journalismus-Diplom per Fernstudium abschließen musste. Jetzt, zurück in der Ukraine, konzentriere ich mich auf meine Selbstfindung und denke darüber nach, psychologische Hilfe zu suchen.
Meine Erfahrungen in Europa haben zu einer persönlichen Offenbarung geführt, die meine Identität von Bisexualität zu Pansexualität verändert hat. Jeder Tag bringt eine größere Selbsterkenntnis und Akzeptanz für mich, während sich die gesellschaftlichen Normen in der Ukraine schnell weiterentwickeln. Das bestärkt mich in meinem Glauben an eine lebendige und integrative Ukraine, in der alle einst ihren rechtmäßigen Platz finden werden.
So könnt Ihr helfen
EINZELFALLHILFE Munich Kyiv Queer unterstützt mit einer eigenen, privaten Spendenaktion über www.paypal.me/ConradBreyer die Menschen in der Ukraine, die in Not oder auf der Flucht sind. Denn nicht alle sind an ukrainische LGBTIQ*-Organisationen (s.u.) angebunden. Die Hilfe ist direkt, schnell und gebührenfrei, wenn Ihr auf PayPal die Option „Für Freunde und Familie“ wählt. Wer kein PayPal hat, kann alternativ an das Privatkonto von Conrad Breyer, Sprecher Munich Kyiv Queer, IBAN: DE42701500000021121454, Geld schicken.
Wir helfen unsere Freund*innen und Partnern. Alle Gesuche aus der Community werden in Zusammenarbeit mit unseren queeren Partner-Organisationen in der Ukraine akribisch geprüft. Können sie selbst helfen, übernehmen sie. Übersteigen die Anfragen die (finanziellen und/oder materiellen) Möglichkeiten der LGBTIQ*-Organisationen, sind wir gefragt.
HILFE FÜR LGBTIQ*-ORGANISATIONEN Wir haben zum Schutz von LGBTIQ* aus der Ukraine das Bündnis Queere Nothilfe Ukraine mitgegründet. Ihm gehören um die 40 LGBTIQ*-Organisationen in Deutschland an. Sie alle haben ganz unterschiedliche Kontakte in die Ukraine und sind bestens vernetzt mit Menschenrechtsorganisationen vor Ort, die Gelder für die Versorgung oder Evakuierung queerer Menschen brauchen. Spendet hier
Fragen? www.MunichKyivQueer.org/helfen
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