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„Diese Menschen haben Geschichte geschrieben!“

14.11.2023 | cb — Keine Kommentare
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In ihrer Laudatio hat Oleksandra Bienert von der Allianz Ukrainischer Organisationen aus Anlass der Verleihung des Hans-Peter-Hauschild-Preises der Deutschen Aids-Hilfe in Berlin an Munich Kyiv Queer die Arbeit unserer Organisation in den vergangenen Jahre gewürdigt. Hier dürfen wir den ganzen Text veröffentlichen. Wir fühlen uns geehrt und sagen Danke!

Einander sehen, wirklich sehen und wahrnehmen. Über Grenzen hinweg. Einander verstehen. Begreifen, was passiert. Erfahrungen sichtbar machen, vor allem von Menschen, die sonst unsichtbar geblieben wären.

Immer auf Augenhöhe agieren. Ein partnerschaftliches Verhältnis zu Menschen vor Ort haben. Ein nachhaltiges Engagement aufbauen, das bereits über ein Jahrzehnt hinausgeht. Dies alles betrifft die Kontaktgruppe Munich Kyiv Queer.

Verleihung durch den Vorstand Ulf Kristal (l.) und Sven Warminsky (r.) mit Laudatorin Oleksandra Bienert, Stanislav Mishchenko, Conrad Breyer und Stephanie Hügler, alle Munich Kyiv Queer. Foto: Brigitte Dummer

Liest man ihre Selbstbeschreibung auf der Web-Seite, so versteht sich die Kontaktgruppe Munich Kyiv Queer als Schnittstelle zwischen der Münchner und der queeren Szene in Kyjiw und in anderen ukrainischen Städten. Sie initiieren, vermitteln, konzipieren, koordinieren und setzen Projekte allein oder gemeinsam mit den Gruppen und Vereinen der jeweiligen Communitys um. Sie stehen mit Rat und Tat zur Seite.

Dies alles trifft zu, jedoch ist es ziemlich bescheiden von der Wirkung her. Denn diese Menschen haben Geschichte geschrieben. Und sie schreiben weiterhin Geschichte.

Die Basis: Eine Städtepartnerschaft zwischen München und Kyjiw

Entstanden ist die Gruppe zunächst im Rahmen der Städtepartnerschaft München und Kyjiw. Es kam die Idee auf, eine Delegation aus Kyjiw zum Münchner CSD 2012 einzuladen. Nach Teilnahme der Kyjiwer Delegation gab es viel Austausch und so begann die langjährige Zusammenarbeit und die Kontaktgruppe Munich Kyiv Queer.

Die ersten waren unter anderen Conrad, Sibylle, Uwe (München) und Stas (in Kyjiw). Die Kontaktgruppe ist gewachsen, blieb im Flow, war immer offen.

Und wenn sie am Anfang eine Art Brücke sein wollten (was sie immer noch sind), gibt es mittlerweile nichts, was sie nicht gemacht hätten: Übersetzungen von Büchern, Ausstellungen, Sichtbarmachung von LGBTIQ*, allen voran trans* Menschen, gemeinsame Projekte, Workshops für ehrenamtliche Volunteers, die aus der Ukraine kamen, um für eine Woche die queere Szene in München kennenzulernen, und vieles vieles mehr.

Jubiläumsveranstaltung 40 Jahre Deutsche Aidshilfe. Foto: Brigitte Dummer

Immer wurde auf Augenhöhe mitgedacht und agiert: Munich Kyiv Queer wollte vor allem tatsächlich eine Brücke sein, in der die Communitys, die in Selbsthilfe involviert waren, sichtbar werden.

Nun ist die Brücke gewachsen und wirkt viel mehr als eine Brücke. Diese Brücke ist ein Teil des Geschehens und eines der wichtigsten und erfolgreichsten internationalen kommunalen Projekte in Deutschland. Sie wirkt in beide Gesellschaft hinein – in die deutsche und ukrainische. Die Projekte reichen und strahlen mittlerweile in die Gesamt-Ukraine aus.

Ausstrahleffekte in die gesamte Ukraine

Was einfach klingt, verbirgt Tonnen von Arbeit, die jetzt schon eine ganze Generation geprägt hat – sowohl in der Ukraine, als auch in Deutschland. Zu den Partnern zählen mittlerweile Organisationen in der ganzen Ukraine – ob in Winnytsija, in Saporischschja, Odesa, Charkiw, Kyjiw, Lwiw. Auch werden verschiedene Organisationen unterstützt, die HIV-Prävention betreiben.

Eine sehr wichtige Kooperation fand mit der Gay Alliance Ukraine statt, vor allem in den ukrainischen Regionen. 2016, als die Finanzierungsprogramme für die HIV-Prävention in der Ukraine gestoppt wurden, hat Munich Kyiv Queer die Queer Homes mit Spenden finanziert. Was bedeutet es, ein Queer Home in einer ukrainischen Region zu haben? Es bedeutet Safe Space. Es bedeutet Selbstbestimmung, Entscheidungsfreiheit. Es bedeutet, ein Mensch sein zu können, ohne sich verstecken oder verstellen zu müssen.

Hans-Peter-Hauschild-Preisträger*innen Conrad Breyer, Stephanie Hügler, Stanislav Mishchenko (v.l.) von Munich Kyiv Queer. Foto: Brigitte Dummer

Ein weiteres schönes Beispiel war die Einladung queerer Chöre aus der Ukraine zur Teilnahme am queeren Chorfestival Various Voices in München 2018. In Odesa wurde dann nach dem Beispiel und mit gewonnenen Kontakten ein ähnliches Festival organisiert: das Q-Fest: Nun luden Menschen aus der Ukraine Münchner queere Chöre nach Odesa ein. Ich könnte noch stundenlang solche Projekte aufzählen.

Launch Pride – der Beginn von Sichtbarkeit

Einer der wichtigsten Meilensteine war die Teilnahme seit 2012 am jährlich stattfindenden KyivPride mit einer Münchener Delegation, die in manchen Jahren über 20 Personen zählte. Ich bewundere den Mut dieser Menschen, die mit ihrer Präsenz nicht nur Unterstützung geleistet, sondern nachhaltig die Entwicklungen in der Ukraine beeinflusst.

Die ersten KyivPrides bedeuteten konkrete Lebensgefahr oder Gefahr für die Gesundheit für alle Teilnehmenden. Der Zusammenhalt der ukrainischen Queer-Szene und die internationale Präsenz hat die Situation aber im Laufe der Jahre verändert. Es wurde Druck auf die Politik ausgeübt. Munich Kyiv Queer war in ihrer Unterstützung eine der ersten Organisationen, die nachhaltig etwas bewirkt haben. Nach ein paar Jahren hat diese Unterstützung dem KyivPride geholfen, wortwörtlich aus den Höfen auf die Hauptstraßen zu kommen. Sowohl in psychischem Sinne, als auch metaphorisch gemeint.

Der KyivPride konnte nun stattfinden.

Jubiläumsveranstaltung „40 Jahre Deutsche Aidshilfe“ mit Barbie Breakout (r.) und Holger Wicht. Foto: Brigitte Dummer

Nach der russischen Invasion am 24. Februar 2022 fand eine Neuerfindung von Munich Kyiv Queer als Hilfsorganisation statt.

Man leistet Einzelfallhilfe, Hilfe für LGBTIQ*-Organisationen in der Ukraine – für queere Kriegsopfer in Not, oder auf der Flucht. Munich Kyiv Queer war Mitbegründer des Bündnisses „Queere Nothilfe Ukraine“ mit über 40 Organisationen in Deutschland, das eine Million Euro für die Hilfe für queere Menschen in der Not gesammelt hat und mit über 15 lokalen NGOs in der Ukraine kooperiert. Dabei waren unter anderem die über Jahre aufgebauten Kontakte und Erfahrungen von Munich Kyiv Queer ganz entscheidend dafür, dass die Hilfe schnell ankommen konnte.

Solidaritätsreisen ins Kriegsgebiet

Mitglieder von Munich Kyiv Queer, unter anderen Sibylle, sind in die Ukraine gereist, um Solidarität mit ihren Freund*innen in der Ukraine zu zeigen, Hilfe zu überreichen, vor allem um den Menschen nah zu sein. Sibylle hat in der Ukraine Raketenangriffe erlebt, aber auch große Dankbarkeit von Menschen vor Ort, dass sie nicht vergessen werden. Ihre Reise hat sie mit Filmen und Texten dokumentiert und Spenden gesammelt. Allein von dieser Reise kamen 14.000 Euro zusammen.

Munich Kyiv Queer sammelt aber auch Geschichten unter dem Motto „Wie lebt Ihr im Krieg?“ und schärft so das öffentliche Bewusstsein für queere Schicksale. Hier möchte ich auf eine Geschichte von Lera, einer trans* Person aus Oleschki im Gebiet Cherson, aufmerksam machen. Oleschki ist immer noch nicht befreit. Dank Munich Kyiv Queer wissen wir, was es heißt, in den von Russland okkupierten Territorien als trans* Person zu leben.

Lera konnte mit der Hilfe der Chersoner Organisation „Insha“ über die Krim, später Russland und Estland nach Berlin fliehen, wo sie heute lebt.

Jubiläumsveranstaltung „40 Jahre Deutsche Aidshilfe“. Foto: Brigitte Dummer

Munich Kyiv Queer setzt sich jetzt aber auch für die Einrichtung von Sheltern ein zur Unterbringung von queeren Geflüchteten aus der Ukraine in sicheren Zufluchtsunterkünften. Das Ziel dabei war und ist darüber hinaus zu erreichen, dass queere Geflüchtete auch in den Communitys in Deutschland ankommen können. Eine Mammutaufgabe. Eine weitere von vielen.

In Berlin wurde am 11. Juli 2023 die Fotoausstellung „Ich bin aus der Ukraine, ich bin in der Ukraine“ mit Fotos und Geschichten von queeren Menschen aus der Ukraine eröffnet.

Die Ausstellung wurde vom KyivPride erstellt, dank Munich Kyiv Queer erschien sie in Deutschland auch auf Deutsch. Die Stationen in Berlin wurden in Zusammenarbeit mit PlusUkrDe – Positive Ukrainer in Deutschland e.V. und der Allianz Ukrainischer Organisationen e.V. organisiert. Wieder konnten queere Schicksale im Krieg sichtbarer werden.

Ein Dank an Munich Kyiv Queer

Ich danke der Kontaktgruppe Munich Kyiv Queer herzlich für ihre Arbeit, für das große Herz, für ihren Mut, für das leuchtende Beispiel der grenzenlosen Solidarität und Menschlichkeit.

Es liegt noch viel Arbeit vor uns. Der russische Angriffskrieg in der Ukraine dauert an. Menschen, insbesondere queere Menschen in der Ukraine und die, die sich auf der Flucht befinden, benötigen weiterhin unsere Hilfe und Solidarität. Es geht um Zufluchtsorte, um Safe Spaces, um weitere Arbeit gegen Diskriminierung.

Hans-Peter-Hauschild-Preisträger*innen Munich Kyiv Queer und AIDS-Hilfe Emsland. Foto: Brigitte Dummer

In diesem Jahr haben zum ersten mal in der Geschichte der Ukraine das ukrainische Verteidigungs-, das Justizministerium sowie einige Ausschüsse des ukrainischen Parlaments einen Gesetzentwurf über die Registrierung von eingetragenen Partnerschaften offiziell unterstützt. Nun erwarten wir alle die Entscheidung des Parlaments. Dieser Durchbruch ist auch internationalen Verbündeten wie Munich Kyiv Queer zu verdanken. Sie schreiben mit ihrer Tätigkeit in der Tat Geschichte.

Hans Peter Hausschild, der Namensgeber des heute zu überreichenden Preises, stand mit seiner ganzen Person und Arbeit für das „Verlernen der sozialen Grenzen“. Die Arbeit von Munich Kyiv Queer mit ihrer grenzlosen Solidarität erfolgt ganz im Geist dieses „Verlernens“ und „Überwindens“ der Grenzen und der Solidarität.

Mit den besten Wünschen für die Zukunft

Ich wünsche Munich Kyiv Queer für die weitere Arbeit ganz viel Kraft und freue mich sehr, dass der Hans-Peter-Hauschild-Preis heute an sie heute überreicht wird.

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