FundReise Tag 23 – Charkiw
Zuhause hat sie von ihrer Reise ins zerbombte Charkiw erstmal lieber nichts gesagt. Jetzt, wo sie wieder in Sicherheit ist, kann Sibylle damit raus: Die Weihnachtsfeiertage hat sie bei Freundinnen in der ostukrainischen Stadt verbracht. Eine Rakete aus Russland braucht hierher gerade mal 40 Sekunden. Die Tage in Charkiw haben Sibylle gezeichnet.
Das ist der Blog von Sibylle von Tiedemann, Mitgründerin von Munich Kyiv Queer. Sie wollte nicht mehr nur zuschauen, was in der Ukraine passiert, und fuhr selbst hin. Vor Ort besucht sie seit einigen Wochen unsere Freund*innen und Partner, sie berichtet und sammelt Spenden.
Strom: dunkel
Temperatur: okay
Spendenbarometer: 12.911,78 von 18.000 Euro
Besondere Vorkommnisse: Brutalität
Alle Blogbeiträge: Sibylles #FundReise nach Kyjiw mitten im Krieg
„Toi toi toi“, schreibt Sergej Sumlenny und da wird mir dann doch etwas mulmig. Ich habe meinen Aufenthalt verlängert, um mehr von der Ukraine zu sehen. Aber dann gleich nach Charkiw? 20 bis 30 Kilometer Luftlinie von Russland? Verliere ich jetzt jegliche Vernunft?
Natürlich habe ich mich – wie immer bei meiner Reise – beraten. Auch mit Sergej Sumlenny, der von 2015 bis 2021 die Heinrich-Böll-Stiftung in Kyjiw geleitet hat und ein ausgewiesener Osteuropa-Experte ist. Im Prinzip kann kann man, also ich, schon nach Charkiw fahren. Aber die Situation ist dynamisch und so genau weiß man es nicht. „Toi toi toi“ eben. Nun ja.
Ich war noch nie in Charkiw. Jetzt, wo die russische Armee aus der Ukraine ein Schlachtfeld macht, einzelne Orte auf die Weltbühne des Grauens zieht, habe ich das Gefühl, so vieles verpasst zu haben. Unter anderem Charkiw.
Einladung ins Haus der Familie
Dort kenne ich Anna Sharyhina. Auch Anna war schon in München: Zu Uwe Hagenbergs Workshop „Community Building“, aber auch zum CSD. Anna ist Vizepräsidentin der NGO „Women Association Sphere“, die sich dezidiert auch Lesben und bisexuellen Frauen widmet. Außerdem organisiert sie mit ihrer Organisation den KharkivPride.
Anna ist die ganze Zeit über in Charkiw geblieben. Und lädt mich nach meiner Anfrage sofort zu ihrer Familie ein. Dass ich privat unterkommen kann, dient meiner Sicherheit. Die Einheimischen haben mir zehn Monate Krieg voraus.
„40 Sekunden! 40 Sekunden braucht eine Rakete von Russland nach Charkiw“, erklärt mir Annas Freundin Anna. „Niemand schafft es in 40 Sekunden in einen Bunker“. „Aber auch nicht in zweieinhalb, drei Minuten“, überschlage ich geschwind die etwaige Dauer nach Kyjiw. „Nein, in den Bunker nicht. Aber in der Zeit kann die Luftabwehr reagieren.“
„Es gibt Erde-zu-Erde-Raketen“, fährt Anna Sharyhina fort. Sie beschreibt mit ihren Händen eine Parabel. „Und es gibt Luft-zu-Erde-Raketen.“ Anna lässt ihre Hand in der Waagerechten stehen. „Dann…. wummmmm.“
Erde zu Erde, Luft zu Erde… Sitze ich hier gerade wirklich mit einer so klugen Aktivistin, Feministin und spreche über … Raketen? Warum nicht über … Judith Butler? Simone de Beauvoir? Tratsch aus der ukrainischen Lesbenszene?
Luft-zu-Erde-Raketen sind übrigens gefährlicher. Aber das habt ihr euch vermutlich auch schon gedacht.
Dieser Krieg passiert jetzt!
Anna und Anna erzählen mir einiges aus den ersten Stunden, Tagen, Wochen des Krieges. Und ich? Es fällt mir schwer, darüber zu schreiben. Das hier ist echt, das hier passiert gerade, es passiert mit Menschen, die ich kenne und mag.
Anders als meine Arbeit als Historikerin, der „Aufarbeitung“ von etwas, ist die Bedrohung nicht vorbei, sondern kann zurück kommen. In 40 Sekunden zum Beispiel.
Das grüne Klebeband war die erste Schicht. Der erste Versuch, das Glas splittersicher abzukleben. Später kam die Information, dass man die Scheibe komplett ankleben muss. Das Holzbrett ist zusätzlicher Schutz. Die Flaggen sind Schmuck und Ausdruck von Identität gleichermaßen.
Auf dem Grundstück leben in verschiedenen Häuschen Familie und Nachbarn von Anna und Anna. Großmutter Anna zum Beispiel (ja, hier heißen offensichtlich alle Anna) , die mich, die Münchnerin, begrüßt mit den Worten: „Wir sind doch auch Menschen“. Sie freut sich ganz offensichtlich, dass ich sie hier in Charkiw trotz Kriegs besuchen komme.
Großmutter Anna zeigt mir ihren Obst- und Gemüsegarten. Das ist ihr Reich hier, das wird deutlich. Mitsamt einiger Hunde und Katzen.
Die beiden Annas waren schon vor dem Krieg viel beschäftigte Frauen. Jetzt sind sie auch mit humanitären Aufgaben beschäftigt. In den befreiten Gebieten rund um Charkiw herrscht größte Not: Essen, Kleidung, Strom und Heizung … es fehlt an allem.
Die NGO Sphere hilft den vom Krieg betroffenen Frauen, liefert Pakete aus. Darin auch enthalten: Schwangerschaftstests und Verhütungsmittel. Sphere musste im März wegen der Angriffe die Räume schließen. Anna hofft, dass sie das Community Centre bald wieder öffnen können.
Jetzt aber haben die beiden ein dreitägiges Training zum Thema „Sicherheit im Krieg“ vor sich. Wie man sich an Militär-Kontrollpunkten verhält. Wie man starke Blutungen abbindet. Solche Sachen halt. Krieg für Fortgeschrittene.
Aber sie nehmen sich auch Zeit, zeigen mir ihre Stadt, die schönen und bombardierten Seiten gleichermaßen, bringen mich mit Menschen zusammen, erklären viel.
An meinem zweiten Tag in Charkiw gehen die Annas zu ihrem Training, ich in die Stadt. Und treffe auf etliche zerbombte Gebäude wie das der Bibliothek. So wie (Groß-)Eltern den Kindern die Familiengeschichte erzählen, berichten Bücher und Dokumente von der Geschichte eines Landes. Der russische Angriffskrieg soll die Identität der Ukraine zerstören, das wird hier besonders deutlich.
Mit Krieg kenne ich mich nicht aus
Aber was die Stoffreste da am Zaun machen, das verstehe ich nicht. Ich gehe näher ran, inspiziere den Hof genauer. Sollen die Stoffreste eine Art Mahnmal sein, grüble ich, und denke an die Schuhe am Donauufer in Budapest. Ich habe wohl ein wenig zu auffällig den Zaun inspiziert, denn jetzt kommt ein Wachmann auf mich zu.
„Warum sind da so Stoffe, ist das eine Art Mahnmal?“, frage ich den Wachmann, froh, dass ich dieses Rätsel vielleicht lösen kann. Er schaut mich an. Ich merke, dass meine Frage blöd ist. Und da sagt er auch schon: „Das ist Camouflage“. Ich schaue. Er schaut. „Entschuldigung. Mit Krieg kenne ich mich nicht aus“, erkläre ich. Und bin plötzlich ganz traurig. Ich merke, dass er es merkt. Die Traurigkeit.
Auch in Charkiw gibt es in den Zwischengeschossen der Metro zahlreiche Lädchen, in denen man von Elektroartikeln bis zu Käse und Wurst alles kaufen kann. Das ist sehr praktisch. Das war sehr praktisch.
Jetzt sind gefühlt 90 Prozent der Lädchen geschlossen. Die Metro diente viele Wochen als Schutzraum und stand daher still. Viele Menschen sind geflohen. Im Moment lohnt das Geschäft einfach nicht.
Positiv auffällig ist, wie präsent das jüdische Fest „Chanukkah“ ist, das meist auf den Dezember fällt, äußerlich Ähnlichkeiten mit Weihnachten hat (Lichter, Geschenke und fettes Essen), historisch und religiös gesehen aber nichts damit gemein hat.
Anna hat mir den Kontakt zu Marina vermittelt, einer Mutter von Zwillingen im Kindergartenalter. Marina hat mal in Saltiwka gelebt, einem ruhigen Wohnviertel im Nordosten von Charkiw. Die russische Luftwaffe „befreite“ hier besonders gründlich Wohnhäuser, Kindergärten und Shopping-Malls. Am 24. Februar zerstob Marinas Lebensplanung buchstäblich zu Trümmern. Als die Flucht möglich war, verließ sie mit ihren Kindern die Heimatstadt.
Saltiwka ist kein Ort mehr für Kinder
Aufgrund der Raketeneinschläge war hier schon früh auch die Wärmeversorgung zerstört. Viele Krippen und Kindergärten sind seit Februar geschlossen. Saltiwka ist kein Ort mehr, wo Menschen ihre Kinder aufziehen können.
Marina fährt mich zu besonders zerbombten Häusern. „Es ist eines, die Fotos in den Zeitungen zu sehen. Es ist was anders, davor zu stehen“, sage ich bedrückt. „Und es ist ein drittes, hier gelebt zu haben“, ergänzt die junge Mutter leise.
„Erzähl in Deutschland davon“, gibt sie mir noch mit auf den Weg.
#FundReise #MunichKyivLove #18000Euro
Sibylle sammelt Spenden für
EINZELFALLHILFE Munich Kyiv Queer unterstützt mit einer eigenen, privaten Spendenaktion über www.paypal.me/ConradBreyer die Menschen in der Ukraine, mit denen wir in den vergangenen zehn Jahren eng zusammengearbeitet haben. Das ist direkt, schnell und gebührenfrei, wenn Ihr die Option „Geld an einen Freund senden“ wählt. Kennwort #FundReise. Wer kein PayPal hat, kann alternativ an das Privatkonto von Conrad Breyer, IBAN: DE42701500000021121454, Geld schicken. Wir helfen unsere Freund*innen und Partnern. Wir kennen sie persönlich und wir vermissen sie schmerzlich.
HILFE FÜR KRIEGSOPFER: KINDER, ALTE UND KRANKE MENSCHEN IN KYJIW UND UMGEBUNG Der Verein „Brücke nach Kiew“ unterstützt hilfsbedürftige Personen, insbesondere Kinder und kinderreiche Familien, finanziell schwache, gering verdienende und/oder auch Tschernobyl-geschädigte Personen in der Ukraine und hier insbesondere in Kyjiw – insbesondere über ein Pat*innen-Programm. Das Ziel ist Hilfe zur Selbsthilfe.
Empfänger: Brücke nach Kiew e.V.
Bank: Raiffeisenbank München Süd eG
IBAN: DE74 7016 9466 0000 0199 50
BIC: GENODEF1M03
Kennwort: #FundReise
Ab 200 Euro kann eine Spendenbescheinigung ausgestellt werden.
HILFE FÜR LGBTIQ*-ORGANISATIONEN Wir haben zum Schutz von LGBTIQ* aus der Ukraine das Bündnis Queere Nothilfe Ukraine mitgegründet. Ihm gehören um die 40 LGBTIQ*-Organisationen in Deutschland an. Sie alle haben ganz unterschiedliche Kontakte in die Ukraine und sind bestens vernetzt mit Menschenrechtsorganisationen vor Ort, die Gelder für die Versorgung oder Evakuierung queerer Menschen brauchen. Spendet hier
Mehr Informationen: www.MunichKyivQueer.org/helfen
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