Ich Sensitive Content? Nein!
Heute wieder was mit Kunst? Wir waren in den vergangenen Tagen kreativ unterwegs mit Graffiti- und Zines-Workshop. Tatsächlich steht heute wieder Kunst auf unserem PrideWeek-Programm, aber heute werden wir nicht selbst aktiv, sondern dürfen zuschauen und staunen. Herzlich willkommen in der virtuellen Ausstellung: „(I am not) Sensitive Content“
von Sandra Höstermann-Schüttler
Organisiert wurde dieses PrideWeek-Event von Munich Kyiv Queer und es versammelten sich etwa 40 Teilnehmende vor ihren Rechnern, um das Werk von vier queeren Künstler*innen aus der Ukraine kennenzulernen.
Einleitend gab es Grußworte von Dmytro Shevchenko, dem Konsul vom Generalkonsulat der Ukraine in München, der die beispielhafte Kooperation zwischen München und Kyjiw lobte und berichtete, dass Menschen in der Ukraine die Ereignisse in Deutschland mit Interesse verfolgen, da wir hier schon einen weiten Weg im Kampf für LGBTIQ*-Rechte hinter uns haben und die Ukraine davon lernen kann.
In der Ukraine sei die Situation nicht perfekt, verbessere sich aber von Jahr zu Jahr. Er warb um Verständnis für die Situation in der ukrainischen Gesellschaft, die viele Jahre sowjetischer Propaganda hinter sich hat und wo die Kirche auch heute noch einen großen Einfluss ausübt. Für ihn ist Kunst die beste Art, Gedanken zu transportieren. Kunst hilft uns dort, wo Sprache nicht mehr weiterkommt und die LGBTIQ*-Community kann Kunst nutzen, um ihre Signale an die Gesellschaft zu senden.
Der Mut in der Kunst
Dominik Krause, Stadtrat in München, sprach über die lange Tradition der Kooperation zwischen München und Kyjiw. Für ihn hat die Ausstellung keine expliziten politischen Forderungen, es gehe vielmehr um die eigene Identität und die Frage, was es für die Künstler*innen bedeutet, sich damit auseinanderzusetzen. Aber sie weise, ohne es explizit zu benennen, auf die Rechte von LGBTIQ* hin, ja mehr noch, sie schließt an eine Diskussion an, die unter dem Kampfbegriff „Verbot homosexueller Propaganda“ immer wieder geführt werde, zuletzt mit Blick auf die Situation in Ungarn, davor in Russland.
„Propaganda ist in Deutschland ein stark aufgeladenes Wort. Wenn man es im Duden nachschaut, liest man dort: ‚Systematische Verbreitung politischer, weltanschaulicher o. ä. Ideen und Meinungen mit dem Ziel, das allgemeine Bewusstsein in bestimmter Weise zu beeinflussen.‘ Und damit ist auch klar, worauf extreme Rechte oder religiöse Fundamentalist*innen hinaus wollen: LGBTIQ* zu einer Idee, einer Meinung zu machen, weil allein ihre bloßige Existenz nicht in ihr Weltbild passt. Die Ausstellung regt dazu an, darüber nachzudenken, indem sie zeigt, wie allein die künstlerische Auseinandersetzung mit Körperlichkeit, mit sexueller Identität, mit Queerness die Künstler*innen zu ‚Sensitive Content‘ oder eben auch zu ‚Propaganda‘ werden lässt. Sie zeigt, dass es eben nicht oder zumindest nicht nur um Ideen, um Meinungen geht, sondern letztendlich um das eigene Sein.“ Krause bewundert den Mut der Künstler*innen, solche Kunst in der Ukraine zu wagen.
Die Kuratorin dieser Ausstellung, Kateryna Pidhaina, betonte, dass die Künstler*innen an der Front stehen, Risiken eingehen und viel Aufmerksamkeit in der Gesellschaft bekommen – positive wie negative – und das erfordert Mut. Die Heteronormativität macht es schwer, andere Lebensweisen zu sehen und die sozialen Medien nutzten heute andere Möglichkeiten, Körperlichkeit darzustellen, als wir es von den Museen kennen.
Bühne frei für Queerness
Das Projekt „(I am not) Sensitive Content“ sollte ursprünglich offline/analog durchgeführt werden, findet nun jedoch online statt. Die Kunstwerke sowie Informationen über die Künstler*innen dieser Ausstellung finden sich hier. Aber natürlich kamen auch die Künstler*innen selbst zu Wort.
Anatoliy Belov freut sich, dass der Pride Month in der Ukraine jedes Jahr größer wird, sieht aber die zunehmende Kommerzialisierung kritisch. Zu seinen Werken hat er sich von queeren Künstler*innen in Deutschland und Österreich inspirieren lassen und thematisiert in ihnen Diskriminierung und Ungleichheit. Er möchte sich damit Gehör verschaffen und mit Vertreter*innen der Community ins Gespräch kommen.
Neben den Zeichnungen, die in dieser Ausstellung zu sehen sind, nutzt er auch andere Medien und Plattformen, macht zum Beispiel Popmusik und arbeitet aktuell an einem Drehbuch für einen Horrorfilm über die Gay Community, die in der Ukraine, so sieht es Belov, selbst oft sehr patriarchalisch und diskriminierend daherkomme gegenüber weniger privilegierten Gruppen in der LGBTIQ*-Gemeinschaft.
Maria Kulikovska erstellt ihre Zeichnungen auf Immigrationspapieren, also auf realen Dokumenten aus ihrem eigenen Leben und ihrer Migrationsgeschichte. Es geht in ihrem Werk um Grenzen, die Befreiung ihres Körpers und eine Analyse ihres Privatlebens. Sie stammt ursprünglich von der Krim, hat vor einigen Jahren in Schweden eine Frau geheiratet und lebt nun in Kyjiw. Sie hat Architektur studiert und schon immer gemalt, aber ihre Werke bisher nie gezeigt.
Kunst als Therapie
Ihre Aquarelle sind für sie sehr sensitiv. Die dargestellte Liebe, der Hass und ihre ganzen Werke sind ein Fluss über das Leben und es fällt ihr schwer, dies in verbaler Form auszudrücken. Sie wünscht sich, dass sie sich selbst versteht. In der Ukraine kennt die künstlerische Gesellschaft sie nicht wirklich. Ihre Werke sind sehr persönlich. Sie malt Dinge, die sie erlebt hat.
Kinderalbum arbeitet anonym und malt Dinge, die nicht mit vielen Menschen geteilt werden können. Kinderalbum lebt in einer sehr konservativen Stadt und fürchtet, dort erkannt zu werden und hat Angst vor negativen beruflichen Konsequenzen. Die Künstlerin hofft, die Arbeiten eines Tages offen präsentieren zu können und vielleicht sogar davon zu leben. Das Werk soll die Sinne der Zuschauer*innen ansprechen, die Inhalte sind sehr sensitiv.
Kleidung stigmatisiert
Ihre Zeichnungen zeigen Menschen in Berufen, die mit bestimmten Vorurteilen in der Gesellschaft verbunden sind und die ein Doppelleben führen, um ihre sexuelle Identität auszuleben. Ihr Beruf zwingt diese Menschen dazu, ein spezielles Aussehen zu haben, weshalb die Zeichnungen nackte Menschen zeigen, weil Kleidung stigmatisiert und uns einschränkt.
Kateryna Ermolaeva hat das Fotoprojekt „Introtourist“ erstellt, wo sie die Grenzen von Geschlecht/Gender auslotet. Sie hat für dieses Projekt eineinhalb Monate in einem Hotel gelebt und es als einen anonymen Ort kennengelernt, an dem Menschen ihr wahres Ich entdecken können. Sie hat dort Menschen beobachtet, die ein Doppelleben führen und dadurch die Inspiration für dieses Projekt gewonnen. Ihr Fotoprojekt portraitiert vier fiktive Personen, die jeweils eine Nacht in diesem Hotel verbringen und in dieser Nacht ihr zweites Ich ausleben, das sie sonst vor der Welt verbergen. Die Protagonisten sind keine realen Menschen, ihre Geschichten hat Kateryna für dieses Projekt „geschaffen“, sie enthalten aber auch Teile von ihr selbst.
In der anschließenden Diskussion berichteten die Künstler*innen unter anderem über verschiedene Reaktionen, die sie zu ihrem Werk schon erlebt haben, zum Beispiel zu Ausstellungen, die wieder geschlossen wurden, Facebook-Accounts, die gesperrt wurden oder explizite negative verbale Reaktionen von Ausstellungsbesucher*innen.
Kann Kunst also die Gesellschaft verändern?
Wir hoffen es. Über die Kunst können wir der Gesellschaft individuelle Schicksale nahebringen und so das große Ganze angehen. Kunst beginnt dort, wo Sprache endet und es sind vor allem Emotionen, die die Kunst transportiert, die die Gesellschaft berühren, aufrütteln und vielleicht Stück für Stück besser machen können.
Zurück zur Übersicht