Familie im Lockdown
Allein, aber gemeinsam. Weit entfernt, aber innerlich nah. Das waren wir bei zwei internationalen Projekten von Munich Kyiv Queer mit der LGBTIQ*-Community in unseren Partnerstädten Edinburgh und Kyjiw.
von Stephanie Hügler
„And we took that anger and we looked around. And we claimed that anger for family we found“. Diese Zeile aus dem Lied „Stonewall“ von Alison Burns zeigt: Wut ist eine starke Kraft. Richtig eingesetzt kann sie Veränderung bringen – auch in Corona-Zeiten.
Unseren Frust, unsere Angst und auch unsere Wut über die während der Pandemie für LGBTIQ*-Menschen oft besonders schwierigen Zeiten haben wir bei der Kontaktgruppe Munich Kyiv Queer für zwei internationale Lockdown-Projekte mit unseren Partnerstädten Kyjiw und Edinburgh genutzt. Unsere Ziele: die Menschen in Bewegung bringen, online gemeinsam singen und uns auch in dieser schweren Zeit als internationale LGBTIQÜ-Familie gegenseitig unterstützen.
Wochenlang allein mit Netflix?
Daheim auf dem Sofa sitzen und Chips in sich reinstopfen? Da geht mehr, dachten wir uns. Beim „Three City Challenge“ setzten wir uns kleine oder größere sportliche Ziele – jede*r für sich. „Ob gemütlicher Spaziergang im Wald, Strecke machen auf dem Rennrad oder Yoga zu Hause: Hauptsache wir blieben in Bewegung“, berichtet George Austin-Cliff, einer der Münchner Projektinitiator*innen, vom bis Ende April angelegten Projekt.
Mit Fotos und Videos erzählten wir uns über Instagram und eine geschlossene Facebook-Gruppe von unseren Fortschritten und Rückschlägen. Wir teilten Eindrücke aus unseren Städten und feuerten uns gegenseitig an. Neben Bewegungsjunkies erreichten wir zu unserem Erstaunen dabei auch viele Menschen, die bisher mit Schul- und Vereinssport nicht viel am Hut hatten. Post für Post lernten wir uns als Menschen kennen und schätzen. Und am Ende feierten wir bei einer gemeinsamen Online-Party per Zoom unsere Fortschritte.
Die beim Various Voices Festival 2018 in München entstandenen Kontakte und Freundschaften nutzten wir für unser zweites Projekt: einen virtuellen länderübergreifenden Chor. Federführend dabei: die Chöre aus unseren Communitys. Unter Leitung von Mary Ellen Kitchens vom „Regenbogen-Chor“ (München), Kathleen Cronie von „Loud and Proud“ (Edinburgh) und Olga Rubtsova von „Qwerty Queer“ (Odesa) lernten wir per Zoom drei Lieder in unseren drei verschiedenen Sprachen – darunter auch den Song „Stonewall“.
„Stummgeschaltet per Zoom musste zwar jede*r für sich singen, denn wegen der Zeitverzögerung ist ein echter Chorgesang per Zoom nicht möglich. Doch dank den Chorleiterinnen wuchsen wir an den drei Sonntagen im Februar, März und April trotzdem zu einer Chorgemeinschaft zusammen“, sagt Samantha Seymour, die die Idee zu dem Projekt hatte. Und auch mit dieser Aktion erreichten wir Menschen, die sich sonst vielleicht nicht in einen „normalen“ Chor getraut hätten. Schließlich konnte durch die Stummschaltung niemand hören, wenn jemand mal musikalisch daneben lag. Am Ende entstanden zwei begeisterte Projektvideos.
Überwältigendes Echo
Das Feedback auf die beiden Projekte war großartig: Jeweils weit über 100 Menschen aus den drei Ländern machten mit. Die Sehnsucht nach Gemeinschaft, Abwechslung und Solidarität in der Krise war offenkundig. Denn in Pandemiezeiten haben und hatten es LGTBIQ*-Menschen oft besonders schwer. Die einen saßen rund um Feiertage wie Weihnachten und Ostern wochenlang alleine zu Hause, weil Kontakte in Innenräumen entweder gar nicht oder wie in Bayern nur mit der „Kernfamilie“ erlaubt waren. Andere waren aus finanzieller Not gezwungen, sich bei intoleranten, homophoben Verwandten einzuquartieren.
Das traf besonders auf LGBTIQ* in der Ukraine zu: Ihre Familien akzeptieren ihre Lebensweisen und ihre Identitäten oft nicht, sodass sie sie dort verstecken oder ganz aufgeben. Noch schlimmer sieht es in der Öffentlichkeit aus: Rechtsextreme Gruppen haben während der Pandemie häufig Anschläge auf LGBTIQ*, ihre Treffpunkte und Organisationen, und natürlich auch auf Prides verübt. Bars und Queer Homes in Odesa und Charkiw wurden angegriffen. Beim CSD in Odesa haben die Angreifer*innen im Sommer 2020 mehrere Menschen verletzt, während die Polizei tatenlos zusah.
Dass wir die Wut und Hilflosigkeit darüber in positive Gefühle der Solidarität und des Miteinanders umwandeln konnten, erfüllt uns mit Stolz. Uns wurde klar: Am Ende ist es die Liebe zu unserer internationalen Familie, die uns aus Angst, Wut und Depression wieder herausführt. Oder um mit einem weiteren Lied aus dem Projekt zu sprechen: „Love is Love is Love is Love“.
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