FundReise Tag 5 – Kyjiw
Sie will nicht mehr nur zuschauen. Sibylle, Mitgründerin von Munich Kyiv Queer, reist nach Kyjiw. Sie besucht unsere Freund*innen und Partner, berichtet und sammelt Spenden. An ihrem ersten Tag in Kyjiw erlebt sie auch ihren ersten Luftalarm. Diesen Blog hat sie in der U-Bahn verfasst, deren tief gelegene Stationen den Menschen als Schutzraum dienen.
Strom: 20 von 24 Stunden
Temperatur: draußen: minus 7 Grad, drinnen: plus 19 Grad
Spendenbarometer: 1.641,51 von 18.000 Euro
Besondere Vorkommnisse: Normalität, vermeintliche
Alle Blogbeiträge: Sibylles #FundReise nach Kyjiw mitten im Krieg
Am Sonntag bin ich von Przemysl mit dem Zug nach Kyjiw gefahren. Ein bewegender Moment, als zu meinen unzähligen ukrainischen Einreisestempeln ein weiterer dazu kommt. Wie schön, dass es dieses Land noch gibt. Wie unglaublich, dass es dieses Land noch gibt!
Die Zugfahrt viele Stunden durch ein Land, das gerade einen massiven Angriffskrieg erlebt, verläuft absolut normal. Ich bin ja auch im westlichen Teil. Wie von Sergej Sumlenny vorhergesagt (siehe #FundReise Tag 1) ist es warm, wie von mir erhofft, gibt es frischen Kaffee und völlig unerwartet sogar gutes Internet.
Als der Zug pünktlichst (man beachte den Superlativ!) Kyjiwer Stadtgebiet erreicht, sieht man aus dem Fenster … nichts. Folge der russischen Kriegsführung gegen die Zivilbevölkerung.
In Kyjiw holen mich Lena und ihre Freundin vom Bahnhof ab. Lena war mehrfach in München eingeladen: 2013 als Referentin zum Lesbenfrühlingstreffen, als Grußwortgeberin zur Austellungseröffnung „Kein Recht, sie selbst zu sein“ im Kulturzentrum Gasteig 2014, als Teilnehmerin von Uwe Hagenbergs so beliebten Workshops zum Thema „Community Building/Ehrenamt in der LGBTIQ*-Community“.
Immer hat sie bei mir gewohnt. Es ist schön, sie in die Arme nehmen zu können.
Da in Kyjiw bald Ausgangssperre ist, die Metro nicht mehr ganz so häufig fährt, setzen die beiden mich in ein Taxi zu meiner Unterkunft. Ich wohne privat, dazu später mal mehr. Nur so viel, meine Blogs entstehen nun unter redaktioneller Mitarbeit von Kaja.
Am Montag morgen, meinem ersten Tag in Kyjiw, besuche ich als erstes das Office vom KyivPride und entdecke in einer kleinen „Flyer-Ausstellung“ auch das Faltblatt von Munich Kyiv Queer.
Im Büro des Kyjiwer CSD bekomme ich großzügigerweise einen Arbeitsplatz, wenn ich ihn benötigen sollte. Hier gibt es zuverlässig Strom, Internet und eine Dusche. Aber werde ich jemals wieder Texte ohne Kaja schreiben können??? (Katzenbesitzer*innen, ich höre euch bis hierher lachen!)
Gleich ums Eck ist ein kleiner Kaffeeladen, der von einem Geflüchteten aus Charkiw betrieben wird. Hier beginnt meine Entdeckungsreise in Sachen ukrainischen kreativen Protests.
Kreative Formen des Protests
„Russisches Kriegsschiff, fick dich“ ist mittlerweile ein äußerst ikonischer Ausdruck des ukrainischen Widerstands gegen den russischen Angriffskrieg. Ausgesprochen von einem Soldaten in den ersten Kriegstagen erinnert er an einen Schlagabtausch in der hinteren Ecke eines Schulhofs. Als müsste man sich nicht gegen ein sehr mächtiges Land verteidigen, sondern nur gegen einen Rotzlöffel. Ich finde diese Form des Widerstands, der mentale Stärke beweist, einfach nur toll! Es gibt sogar Songs davon.
Der Pappbecher mit der Katze erinnert mich gleich an die Münchner Künstlerin Naomi Lawrence, die viele Jahre sehr aktiv bei Munich Kyiv Queer war. Ihr muss ich sofort Fotos schicken.
Als ich im November von Banksys Streetart in der Ukraine lese, weiß ich sofort, wohin ich in Kyjiw als Erstes möchte: Zum Graffiti am Majdan.
Ausgerechnet hier erlebe ich meinen ersten Luftalarm. VIDEO Es ist bedrückend, das schon, aber ich habe keine Angst. Sonst wäre ich vermutlich auch nicht hier. Ich habe mich vorbereitet, so gut es geht, beobachte meine Mitmenschen genau. Auch dazu gleich noch.
Der erste Luftalarm
Mal vom Luftalarm abgesehen wirkt hier in Kyjiw alles sehr normal – auf den ersten Blick. Erst der zweite Blick offenbart, dass ich mich in der Hauptstadt eines Landes befinde, das im Krieg ist.
Da ich so viel gesehen, erlebt und gefühlt habe, muss ich eine Auswahl für diesen Blog treffen. Und hier kommt sie auch schon:
Als ich mich vor dem Schriftzug „Ich liebe die Ukraine“ fotografieren lasse, tauchen auch schon die drei besten Freunde einer jeden Touristin auf. Der Mann mit den Tauben auf der Schulter („Wollen Sie nicht ein schönes Foto?“), der Mann mit den Souvenirs („Handmade in Ukraine“) und der Mann mit …
Nein, der Mann, der Bustouren verkaufen möchte, der kommt nicht. Touristenbusse fahren zur Zeit wirklich nicht. Ansonsten aber alles soweit normal. Ich wimmle die beiden gekonnt ab, wende mich dann dem Flaggenmeer zu und werde erneut vom Mann mit den Souvenirs angesprochen.
Bei den ukrainischen Armbändern handelt es sich um eine Solidaritätsaktion, die verwundeten Soldaten zugute kommt. Also spende ich und bekomme ein blau-gelbes Bändchen. Der Mann fragt mich, warum ich hier bin (Freunde besuchen) und woher ich komme (aus Kyjiws Partnerstadt München). „Dorthin ist meine Tochter mit den Enkelkindern geflohen“, antwortet er und guckt ganz traurig, weil er sie so lange nicht gesehen hat.
So merkwürdig, dass aufgrund des Angriffskriegs ausgerechnet Deutschland jetzt zum Zufluchtsort geworden ist und sich die Beziehungen der Menschen untereinander so vollkommen neu bilden. Ich will nicht sagen, dass das auch eine Chance ist, weil ein schrecklicher Krieg der Auslöser ist, aber es passiert.
Das Modegeschäft mit ukrainischer Mode (der Schriftzug der Werbeagentur Banda bedeutet: „Mut ist ein ukrainisches Label“), das Schokoladengeschäft Roshen (wir von Munich Kyiv Queer sind Stammkunden), der Besarabsky Rynok – der Viktualienmarkt von Kyjiw, der wesentlich von den Touristen lebt, die es aber schon mit Pandemiebeginn kaum mehr gegeben hat, sind geschlossen.
Die Kyjiwer Metro wurde bewusst sehr tief gebaut. Jetzt im Krieg wird sie zum Bunker: Aus der Rolltreppe eine Sitzgelegenheit, aus Eingangsräumen und Bahnsteigen Schutzräume. Ich sehe Klappstühle, Isomatten und Routine.
Wir dürfen uns nicht an diesen Krieg gewöhnen
Bei diesem Anblick muss ich unwillkürlich an den Gewaltforscher Jan Philipp-Reemtsma denken, der selbst massivste Gewalt überlebte, aber schon vorher zu diesen Themen geforscht hat. Reemtsma sagte mal, dass der Mensch sich auch in der Gewalt in einer Routine, in einer Gewöhnung einrichtet, wenn das möglich ist. Weil er das muss. Der Mensch braucht diese Routine zum Überleben.
Wir aber, die wir im Frieden leben, sollten uns nicht in der Routine des Zuschauens einrichten, uns nicht daran gewöhnen. Wir müssen das auch nicht, wir haben die Wahl.
Spenden helfen in der Ukraine. Spenden helfen aber auch uns, empathisch zu bleiben.
Jeder Euro zählt.
#FundReise #MunichKyivLove #18.000 Euro
Sibylle sammelt Spenden für
EINZELFALLHILFE Munich Kyiv Queer unterstützt mit einer eigenen, privaten Spendenaktion über www.paypal.me/ConradBreyer die Menschen in der Ukraine, mit denen wir in den vergangenen zehn Jahren eng zusammengearbeitet haben. Das ist direkt, schnell und gebührenfrei, wenn Ihr die Option „Geld an einen Freund senden“ wählt. Kennwort #FundReise. Wer kein PayPal hat, kann alternativ an das Privatkonto von Conrad Breyer, IBAN: DE42701500000021121454, Geld schicken. Wir helfen unsere Freund*innen und Partnern. Wir kennen sie persönlich und wir vermissen sie schmerzlich.
HILFE FÜR KRIEGSOPFER: KINDER, ALTE UND KRANKE MENSCHEN IN KYJIW UND UMGEBUNG Der Verein „Brücke nach Kiew“ unterstützt hilfsbedürftige Personen, insbesondere Kinder und kinderreiche Familien, finanziell schwache, gering verdienende und/oder auch Tschernobyl-geschädigte Personen in der Ukraine und hier insbesondere in Kyjiw – insbesondere über ein Pat*innen-Programm. Das Ziel ist Hilfe zur Selbsthilfe.
Empfänger: Brücke nach Kiew e.V.
Bank: Raiffeisenbank München Süd eG
IBAN: DE74 7016 9466 0000 0199 50
BIC: GENODEF1M03
Kennwort: #FundReise
Ab 200 Euro kann eine Spendenbescheinigung ausgestellt werden.
HILFE FÜR LGBTIQ*-ORGANISATIONEN Wir haben zum Schutz von LGBTIQ* aus der Ukraine das Bündnis Queere Nothilfe Ukraine mitgegründet. Ihm gehören um die 40 LGBTIQ*-Organisationen in Deutschland an. Sie alle haben ganz unterschiedliche Kontakte in die Ukraine und sind bestens vernetzt mit Menschenrechtsorganisationen vor Ort, die Gelder für die Versorgung oder Evakuierung queerer Menschen brauchen. Spendet hier
Mehr Informationen: www.MunichKyivQueer.org/helfen
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