„Sie schlugen mir mit einem Gewehrkolben einen Zahn aus“
Lera, eine junge trans* Person aus der Ukraine, musste erleben, wie Russland ihre Heimatstadt Oleshki bei Cherson angriff. Das war vor einem Jahr. Seitdem teilt sie ihr Leben in ein „Vor dem Krieg“ und „Nach dem Krieg“. Heute lebt sie in Berlin. Das ist Leras Geschichte.
Vor dem Krieg führte ich ein einfaches Leben. Ich arbeitete, traf mich manchmal mit Freund*innen in Kyjiw und genoss die kleinen Freuden des Alltags. Ich komme aus der Stadt Oleshki, das ist am linken Ufer der Region Cherson, das kurz nach dem Krieg von Russland besetzt wurde und es bis heute ist.
In der Nacht zum 24. Februar änderte sich das alles auf einen Schlag. Ein Telefonanruf von Bekannten, die in der Nähe der Grenze zur Krim wohnen, riss mich aus dem Schlaf: „Es ist Krieg!“, sagten sie. Es schien surreal und dennoch begann ich sofort, eine Notfalltasche zu packen.
Bis zum Sommer versteckte ich mich zuhause
Die Kämpfe begannen nur wenige Kilometer von meinem Haus entfernt. Gegen 12 Uhr mittags hörte ich sie auf der Antoniwka-Brücke. Das ganze Haus bebte: Ich wusste nicht, zu welchen Göttern ich beten sollte, damit das alles aufhört. Ich fühlte mich, als ob die Welt im Chaos versinken würde. Das tat sie in gewisser Weise auch.
In den Tagen der Apokalypse versuchte ich mein Bestes, um anderen zu helfen. Ich backte Brot, verteilt es, kochte Essen und teilte es. Meine Ofenheizung ermöglichte mir wenigstens das. Doch traute ich mich kaum, das Haus zu verlassen.
Als sich die Lage im Sommer etwas beruhigt hatte, wagte ich mich nach draußen. Doch war die Gefahr nicht vorbei: Ich bin vier Mal auf Orks (russische Soldaten; Anm. d. Red.) gestoßen. Zwei davon belästigten mich und zwangen mich fast in ein Auto. Einmal haben sie mich verprügelt, weil jemand in meiner Stadt sagte, ich sei trans*. Sie schlugen mir mit einem Gewehrkolben einen Zahn aus.
Sie nahmen uns das letzte Essen
Danach bin ich nur noch mit dem Fahrrad raus. Oder ich ging gar nicht mehr aus dem Haus. Eines Tages kamen sie mit einem automatischen Gewehr und verlangten, dass ich ihnen Wasser gebe. Einer von ihnen rief einem Kameraden zu, dass ich ein Mädchen sei und steckte das Gewehr weg. Ich wurde vor Schreck ohnmächtig. Meine Mutter kam heraus und gab ihnen alles, was sie verlangten. Sie nahmen das letzte Essen und das ganze Wasser.
Dann kam der Tag, an dem die Freaks den Damm sprengten. Ich hoffte, das Wasser würde uns nicht erreichen, aber es war schon am nächsten Tag da. Ich fürchtete um unser Haus, die ganze Gegend. Das Wasser stieg schnell, über Nacht stand es mir bis zur Brust, auf etwa 1,40 Meter.
Die Soldaten zeigten wenig Interesse daran, diejenigen zu retten, die keinen russischen Pass hatten. Die örtliche Bevölkerung tat mehr, um den Opfern zu helfen als die russischen Soldaten selbst.
Insha half mir mit Geld zur Flucht
Dann wandte ich mich an die LGBTIQ*-Organisation „Insha“ und bat um Hilfe: Sie gaben mir Geld für die Flucht. Wir flohen über die Krim, wurden am Kontrollpunkt in Armjansk sieben Stunden lang ohne Wasser und Essen in der Hitze festgehalten. Sie haben uns befragt und gezwungen, Papiere zu unterschreiben, dass wir die „Spezialoperation“ Russlands unterstützen, also den Krieg, aber das stimmt nicht. Wir hatten keine andere Wahl, nur mit Mühe kamen wir über die Grenze.
Ich ging nach Simferopol, bezog mit meiner Mutter ein Wohnheim. Es war sehr beängstigend, auch nur zu telefonieren. Sie hätten ja alles abhören können.
Wir zogen weiter nach Woronesch, dort waren wir ein paar Tage. Gerade an dem Tag, als wir weiterreisen mussten, marschierte Prigoschin auf Moskau. Gott sei Dank erreichten wir irgendwann die lettische Grenze.
Dort wurden wir wieder für zehn Stunden festgehalten, und sogar gezwungen, uns auszuziehen. Die Russen wollten meine Tätowierungen sehen. Ich musste meinen Bauch rausstrecken, damit sie meine Brüste nicht gleich bemerkten. Ich hatte schon Angst, der Bus würde ohne mich fahren.
Aber dann drückten sie mir einen Stempel in den Pass und ich überquerte mit Tränen in den Augen die Grenze. Die erste Nacht verbrachten meine Mutter und ich in Daugavpils. Die Reise war sehr hart. Dann ging es nach Estland und weiter nach Berlin.
So könnt Ihr helfen
EINZELFALLHILFE Munich Kyiv Queer unterstützt mit einer eigenen, privaten Spendenaktion über www.paypal.me/ConradBreyer Menschen in der Ukraine, die Hilfe brauchen und nicht an queere Organisationen angebunden sind. Das ist direkt, schnell und gebührenfrei, wenn Ihr die Option „Geld an Familie & Freunde senden“ wählt. Wer kein PayPal hat, kann alternativ an das Privatkonto von Conrad Breyer, IBAN: DE42701500000021121454, Geld schicken.
HILFE FÜR LGBTIQ*-ORGANISATIONEN Wir haben zum Schutz von LGBTIQ* aus der Ukraine das Bündnis Queere Nothilfe Ukraine mitgegründet. Ihm gehören um die 40 LGBTIQ*-Organisationen in Deutschland an. Sie alle haben ganz unterschiedliche Kontakte in die Ukraine und sind bestens vernetzt mit Menschenrechtsorganisationen vor Ort wie „Insha“, die Gelder für die Versorgung oder Evakuierung queerer Menschen brauchen wie im Falle von Lera. Spendet hier
Fragen? www.MunichKyivQueer.org/helfen
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