OdesaBlog V: Von Forshmak, Frauenpower und Vielfalt
Treue Seelen, treue Freundschaft. Schon im fünften Jahr unterstützen wir den OdesaPride. Dieses Jahr sind besonders viele Leute aus München vor Ort, denn parallel findet das Chorfestival Q-Fest statt. Unser Projektchor Monadessa singt mit. Aus der Stadt am Schwarzen Meer berichtet Sibylle von Tiedemann.
Eigentlich wollte ich nicht fahren. Ich war beim ersten erfolgreichen Pride 2013 in Kyjiw und seitdem jedes Jahr in der Stadt. Und ich war 2017 in Odesa, als
Naomi Lawrence,
Uwe Hagenberg und ich mehrtägige Workshops beim
Creative Protest Festival gegeben haben, das im Vorfeld des
OdesaPride stattfand. Eigentlich reicht das fürs Erste. Dachte ich.
Bis ich gehört habe, wie viele Münchner*innen als Projektchor
Monadessa zum Chorfestival nach Odesa fahren möchten. Und nun bin ich sehr glücklich, dass ich hier bin. Und das nicht nur, weil ich anders als 2017 auch ein bisschen Zeit für die Stadt selbst habe.
Eine russische Stadt
In Odesa fällt sofort die stark russische Prägung auf. Überall hört man Russisch, liest man Russisch und nur sehr vereinzelt sieht man blau-gelb bemalte Gegenstände im Stadtbild wie Blumentöpfe, Bauzäune, Haustüren, Mülleimer, Bordsteinkanten, wie mensch es aus Kyjiw seit dem Maidan kennt.
Odesa wurde aber auch stark durch seine jüdische Bevölkerung geprägt. Anfang des 20. Jahrhunderts war mehr als ein Drittel der Stadtbevölkerung jüdisch. Ablesen kann man das heute noch an jeder odessitischen Speisekarte: Unter den Vorspeisen findet sich da ein Gericht namens Forshmak, das, wie sein jiddischer Name verkündet, einen Vorgeschmack auf die weitere Küche bietet. Sehr wkusno, also lecker!
München? Nein, Odesa!
Seit der Gründung der Kontaktgruppe
Munich Kyiv Queer sind viele deutsch-ukrainische Freundschaften entstanden. Das merke ich sehr deutlich beim
Q-Fest, bei dem die Chöre ihren großen Auftritt haben. Wiedersehensfreude mit lieben Menschen, mit denen Munich Kyiv Queer die unterschiedlichsten Projekte gestemmt hat. Dazwischen all die Münchner*innen von Monadessa. Mehrmals an diesem Abend frage ich mich, wo ich gleich nochmal bin? In München? Nein, in Odesa! So vertraut, so nah. Hier zeigt sich, was Munich Kyiv Queer seit 2012 alles initiiert und bewirkt hat. Und ja, ich bin ein bisschen stolz darauf.
Zwischen dem OdesaPride 2017 und 2019 liegen Lichtjahre. Das merken wir an den großen Leuchttafeln in der Stadt, auf denen ein Radiosender einen Maraphon ankündigt: Berichterstattung live von 12 Uhr bis 20 Uhr. (Einziges) Thema des Tages: Der Pride.
Als ich die erste dieser Tafeln sehe, kann ich es gar nicht fassen. Mitten in Zentrum einer ukrainischen Stadt wird offen ein Pride angekündigt. Einfach nur wow! Und die Tafel war nicht zerstört, mit Eiern beworfen oder beschmiert. Auch wenn es solche Vorfälle gab, wie mir später berichtet wurde.
Glückliche Menschen, glückliche Stadt
Das Motto des OdesaPrides 2019 ist „Glückliche Menschen, glückliche Stadt“. Zum Pride selbst will ich gar nicht so viel schreiben. Das haben
Stefan und
Lorenz schon getan. Ganz untypisch deutsch kommen Lorenz und ich knapp. Sehr knapp. So war es nicht geplant. Da wir das Banner von Munich Kyiv Queer mitbringen, können wir uns nicht unauffällig einreihen. Aber wir sind da und dann auch gleich mittendrin. Zwischen lauter entspannten, und ja, auch glücklichen Menschen.
Dieses Jahr sind es deutlich mehr Teilnehmer*innen als 2017. Auffällig ist die riesige Regenbogenfahne, die deutlich längere Wegstrecke, die – was nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ ein Riesenschritt ist – vom Primorskij-Boulevard in die Puschkin-Straße übergeht und an der Derebasyv-Straße endet. Erstmals wurden also Straßen für den „Marsch der Gleichheit“ gesperrt.
Das ist Versammlungsfreiheit, wie sie ein demokratisches Land gewähren muss.
Auffällig ist auch, dass der OdesaPride 2019 sehr weiblich geprägt ist: Frauen als Volunteers, Frauen an den Megaphonen, Frauen als Redner*innen, Frauen als Teilnehmer*innen.
Von Menschenrechten profitieren alle
Es gibt sie natürlich auch, die Gegendemonstrant*innen. Anders als 2017 aber nicht Rechtsradikale, sondern Menschen, die um Familienwerte besorgt sind, Angst vor dem Kulturverfall haben oder aus dem religiösen Lager stammen. „Homosexualität ist der kulturelle Tod“ hat eine Frau auf ihrem Schild stehen. Wie schlimm muss sich das für sie anfühlen, diese Angst vor uns?
Andererseits belustigt es mich, welche Macht sie uns, einer kleinen Minderheit, zuschreibt. Aber
Europa bedeutet eben nicht nur schöne Bürgersteige und große Autos, sondern ist vor allem ein Bekenntnis zu Menschenrechten, die immer auch ein Bekenntnis zu den Rechten von Minderheiten sein müssen. Dass damit ein kultureller Wandel einhergehen kann, ahnt diese Gegendemonstrantin. Dass dieser Wandel ein Gewinn für alle bedeutet, wird sie hoffentlich irgendwann erleben.
Der OdesaPride endet im Stadtzentrum auf einer Straßenkreuzung mit einer Abschlusskundgebung.
Anna Leonova von der
Gay Alliance Ukraine, die den OdesaPride organisiert hat, spricht als Erstes und betont: „Uns ist nicht nur wichtig, den Pride durchzuführen, sondern genauso wichtig ist, dass wir hier im Stadtzentrum sprechen dürfen.“ Nach ihr folgen weitere Vertreter*innen der Community.
Besonders beeindruckt mich
Olena Globa und eine weitere Mutter von der Elterninitiative
Tergo, Anzhela Kalinina. Die beiden (heterosexuellen) Frauen haben schwule Söhne. Sich dazu in einem Land wie der Ukraine offen zu bekennen, kommt auch 2019 für die Mehrheit dem Geständnis gleich, einen Päderasten großgezogen zu haben.
Liebe bewegt, Liebe macht Arbeit
Wie mutig diese Frauen doch sind – und auch in der Elterninitiative Tergo engagieren sich überwiegend Mütter – und wie sehr
sie es eigentlich sind, die Familienwerte zeigen, indem sie ihre Kinder annehmen wie sie sind: „Wir lieben unsere Kinder und wir wünschen uns für unsere Kinder Gleichberechtigung“. Ich denke an den langen Weg, den Olena Globa gegangen ist, seit sie für ihren Sohn eine Konversionstherapie plante. Als
Bogdan Globa dies strikt ablehnte, fuhr Olena extra aus der ukrainischen Provinz in die Hauptstadt, um sich in nur dort erhältlichen Büchern über Homosexualität zu informieren und zu lernen, dass Homosexuelle keine Päderasten sind. So kann es also auch gehen. Aber ein bisschen Arbeit macht sie natürlich schon, die Auseinandersetzung mit den eigenen Vorurteilen.
Am Abend bin ich noch zum Radiointerview eingeladen, zu dem Anna Leonava mich gebeten hat, und lande direkt im Maraphon, dessen Plakate mich am ersten Tag so sehr beeindruckt haben. In einer Live-Sendung versuche ich auf Russisch für Gleichberechtigung für LGBTI* zu werben und unsere Standpunkte zu erläutern.
Wichtig ist mir auch zu erklären, dass es in der Kontaktgruppe Munich Kyiv Queer nicht nur um die Unterstützung der einen geht. Auch wir in München können lernen: Mit dem zu arbeiten, was da ist. Nicht die Perfektion anzustreben, sondern kreativ mit den vorhandenen Möglichkeiten umzugehen und manchmal auch zu improvisieren. Ich freue mich, dass der Projektchor Monadessa Menschen in die Ukraine gebracht hat, die vielleicht so nicht in das unbekannte, kriegsgeplagte Land gefahren wären.
Mein Maraphon
Warum ich persönlich mich für Munich Kyiv Queer engagiere, kann ich für den Maraphon leicht beantworten. Wenn wir eines aus der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts lernen können, dann dies: Diversität einer Gesellschaft bedeutet auch, dass alle Menschen so leben und sein dürfen wie sie sind. Und das muss die Mehrheit manchmal nicht nur aushalten, sondern auch beschützen.
Hier internationale Solidarität zu zeigen, in dem man über den Tellerrand blickt und schaut, wie es anderen geht, ist etwas, wovon auch wir in München profitieren. Indem wir anerkennen und schätzen, was wir alles erreicht haben, aber auch, was es zu bewahren gilt.
Dies scheint mir gerade am heutigen 1. September besonders wichtig. Nicht nur, weil heute vor 80 Jahren mit dem Überfall der Deutschen auf Polen der 2. Weltkrieg begann und damit auch die Vernichtung von allem, was als „anders“ wahrgenommen wurde wie beispielsweise die jüdische Bevölkerung Odesas, sondern auch angesichts der Wahlen in Brandenburg und Sachsen, die befürchten lassen, dass auch sie den Rechtsruck widerspiegeln, den Deutschland seit einigen Jahren erlebt.
Menschenrechte über alles
Es bleibt nach wie vor viel zu tun, um die Vielfalt der Gesellschaft zu schützen. Nicht nur in der Ukraine, sondern auch in Deutschland. Права людини понад усе – Menschenrechte über alles. So hieß die Parole am Samstag. Passt aber auch sonst sehr gut.
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