OutBlog: Debatte im Freien
Zum Internationalen Coming-Out-Tag finden in Charkiw, im Osten der Ukraine, eine ganze Reihe von LSBTI-Events statt. Das PrideHub organisiert Partys, Debatten etc. Munich Kyiv Queer ist dabei. Nachdem die Rechten die Party am Vorabend blockiert haben, gehen die Veranstaltenden heute kein Risiko ein. Sie diskutieren auf einem öffentlichen Platz. Ganz schön mutig. Von Conrad Breyer
Anna Sharyhina hat uns auf Facebook vorgewarnt. Die Debatte zum Thema „Sichtbarkeit“ heute Abend wird auf einem städtischen Platz stattfinden, nicht im
PrideHub wie geplant, schreibt sie. Nach der Blockade gestern wollen die Veranstaltenden sicher gehen, dass die Rechten heute nicht wieder auf denselben Gedanken kommen. Was sehr wahrscheinlich wäre. Da sind die Idioten sehr findig. Man spreche gerade mit der Polizei, die muss uns schützen.
Ich soll für
Munich Kyiv Queer auf dem Podium sprechen. Und kurz erzählen, wie das war mit der Geschichte der LSBTI-Bewegung in Deutschland und warum Sichtbarkeit auch heute noch wichtig ist, wo wir doch alles erreicht haben. Alles erreicht? Die AfD und so manch besorgte Eltern, die Demo für alle und wie die ganzen Initiativen heißen, stellen unsere Gleichstellung ja schon wieder in Frage. Sichtbarkeit? Wird immer wichtig sein, wird wieder wichtiger. Dazu Solidarität, Allianzen – innerhalb der Community, national, international mit anderen Gruppen, Organisationen und Initiativen, die für Menschenrechte kämpfen. Denn LSBTI-Rechte sind keine Sonderrechte! Es geht um Gleichheit vor dem Gesetz. Dass wir voneinander viel lernen können, zeigt der Event heute Abend. Was für eine großartige Idee, eine Diskussion zur Sichtbarkeit sexueller Minderheiten auf einem öffentlichen Platz abzuhalten. Mehr Sichtbarkeit geht nicht. So schlau, aber leider auch gefährlich.
Hauptstadt der Sowjetukraine
Was, wenn uns wie beim
KyivPride die ganzen Neonazis und Orthodoxen empfangen? Rumschreien, einschreiten, zuschlagen? Ich habe keine Angst, hatte Anna sofort zugesagt, mit den anderen Debattanden Rede und Antwort zu stehen auf dem Podium. Ich finde das wichtig, es geht um was. Das sind wir den Leuten hier schuldig und unserer Mission. Aber angespannt, ja nervös bin ich schon.
Stanislav Mishchenko, Mitglied von Munich Kyiv Queer, und ich haben uns heute sehr früh in den Zug nach Charkiw gesetzt, schon um kurz vor sieben. Hotel bezogen und uns dann umgeschaut. Sowjetpracht, die ganze Stadt, durchaus progressiver Konstruktivismus, aber auch Stalins Zuckerbäckerstil. Zu 60 Prozent war die Stadt zerstört, nachdem die Deutschen hier gewütet hatten. Stalin befahl, auch den Rest abzureißen und alles neu aufzubauen. Nicht alles ist der stalinistischen Wüterei zum Opfer gefallen, es gibt noch genügend Altbausubstanz, die im Zentrum sogar recht schön restauriert ist, außerhalb aber pittoresk vor sich hin gammelt. Im Grunde ist Charkiw eine schöne Stadt, voller Farbe und warm an diesen Herbsttagen. Sie war mal die Hauptstadt der Sowjetukraine und das spürt man noch. Kharkiw ist die zweitgrößte Stadt des Landes.
Als wir gegen halb sieben auf dem Platz vor dem
Historischen Museum ankommen, steht da vor allem Polizei rum. Es ist schon dunkel und ganz schön frisch. Anna winkt uns. Wir laufen zu ihr, großes Hallo. Wir haben uns seit Juli nicht mehr gesehen, als sie mit ihrer Freundin Anja beim CSD in München war. „Ich bin so froh, Euch zu sehen“, sagt Anna und zeigt auf den einzigen Baum am Platze. „Unsere ‚Freunde‘ sind schon da.“ Eine Gruppe dunkler Gestalten in schwarzen Hoodys hat sich vor uns versammelt. Da sind sie also, die Nationalisten, Rechtsradikalen, Patrioten, Neonazis, wie immer wir sie nennen wollen. Die Polizei schirmt sie ab, langsam füllt sich der Platz mit Besucher*innen und bald entsteht eine Struktur. Vor dem Museum stehen wir Debattand*innen nebst Moderatorin. Um uns herum im Halbkreis die Teilnehmer*innen. 50 sind es in etwa, viele Passanten stoßen spontan hinzu. Dahinter die Linie der Polizei, wiederum im Halbkreis angeordnet und hinter ihnen die Gruppe von Nationalisten und andere Neugierige, die das Gemenge lieber aus der Distanz beobachten. Die Aufstellung gleicht irgendwie dem KyivPride-Logo. Im Zentrum ein Megaphon, von dem Schallwellen ausgehen.
Hier ein Video dazu
„Hände weg von unseren Kindern!“
Die Diskussion beginnt mit Meinungen aus dem Publikum. Eine, wie ich finde, spannende Herangehensweise. Alle kommen zu Wort, die Veranstaltung ist interaktiv angelegt. Jede*r hat was zum Thema Sichtbarkeit zu sagen: Die meisten finden sie gut und wichtig, einige wenige wollen lieber versteckt leben. Als die Gäste auf dem Podium ihre Anfangsstatements abgeben, fangen die Rechten an zu zicken. Neben
Ruslana Panukhnyk vom
KyivPride und mir spricht
Viktor Pylypenko, ein Soldat, der sich erst vor Kurzem in einer Ausstellung zum Thema geoutet hat. „We were here“ lautete der Titel, sie war im Kunstforum iZone zu sehen. Das war mutig, Medien aus ganz Europa haben über Viktor berichtet. Für unsere ‚Freunde‘ von Rechts passt das nicht zusammen, schwul sein und Soldat. Sie skandieren: „Hände weg von unserer Armee!“, „Hände weg von unseren Kindern!“ etc. etc. Die Leute lachen sie aus, das provoziert die Männer. Ich beobachte ein Wogen in den hinteren Reihen, die Jungs wollen nach vorne. Doch sie haben keine Chance.
Die Polizei macht ihre Sache gut – ganz im Gegensatz zu gestern. Heute hält sie unsere Gegner in Schach. Am Vorabend noch hat sie sich ziemlich passiv verhalten, als Nationalisten die Eröffnungsparty zum Coming-Out-Day zum Scheitern brachten mit ihrer Blockade. Das seien doch ordentliche Leute. Geschlagen haben die Neonazis niemanden, aber aggressiv aufgetreten sind sie doch. Jetzt kooperiert die Polizei. Kein Wunder – die Veranstaltenden haben auch alle Hebel dafür in Bewegung gesetzt, bei der
OSZE angerufen, der Menschenrechtskommission der
UN, den
EU-Botschaften; sogar der deutsche Generalkonsul aus Dnipro ist heute hier. Er beobachtet die Szenerie. Es ist wie beim KyivPride: Wenn Druck aus dem Ausland kommt, ist auch der politische Wille da. Schade, dass es nur so funktioniert.
Als ich anfange zu sprechen, schreit es mir entgegen. „Sprich Ukrainisch!'“. „Er kommt doch aus München“, brüllt Anna zurück. Ich rede einfach weiter, davon, wie wichtig es ist, über alle Grenzen hinweg zusammenzustehen, innerhalb der Community, international, und wie sinnvoll es ist, sich mit anderen Minderheiten zu verbünden. Und dass wir viel von den ukrainischen Aktivist*innen lernen können. So ein Format wie das hier kenne ich aus München nicht.
„Krieg ist ein schmutziges Geschäft“
Jetzt ist wieder das Publikum gefragt. Sie geben Stellungnahmen ab. Ein Lehrer, der zufällig vorbeigekommen ist, bleibt stehen, ergreift das Wort und outet sich spontan: „Ich bin gay“, sagt er und alle applaudieren. Was für eine große Tat! Dann wollen alle von Viktor wissen, wie seine Familie und die Kameraden sein Outing aufgenommen haben. „In der Armee waren sie fein damit“, erzählt Viktor. Auch seine Mutter habe ihn akzeptiert, nur sein Vater nimmt ihm bis heute nicht ab, dass er schwul ist. Er glaubt es einfach nicht und redet nicht weiter drüber. Auch er verteidige sein Land, stehe für die Sicherheit der Menschen hier ein und habe dieselben Anliegen wie alle hier, in einer freien, gerechten und solidarischen Ukraine zu leben. Dafür hat Viktor 2014 seine Karriere im Ausland aufgegeben, sich auf dem
Maidan engagiert, dann freiwillig zum Einsatz an der Front gemeldet. Zwei Jahre war er dort. Um Mariupol haben sie gekämpft, Tag und Nacht. „Krieg ist ein schmutziges Geschäft“, wird er später erzählen, als wir beim Bier zusammensitzen, „jeder Krieg“. Aber er bereut es nicht. „Wir verteidigen uns nur“, sagt er. Menschen sind gestorben, auf beiden Seiten. Heute produziert er Filme. Im Moment aber hat sich Viktor eine Auszeit verordnet; er hilft seinen Eltern, Haus und Garten herzurichten. Dafür ist er sogar wieder zu ihnen gezogen.
Jetzt stellen auch die Nationalisten Fragen, und heben fein die Hand – wie in der Schule. Ich bin beeindruckt. Sollten sie sich doch zu einem aufrichtigen Gespräch hinreißen lassen? Viktor versucht, mit ihnen zu diskutieren. Schnell wird es den Männern zuviel und sie fangen wieder an, ihre Sprüche aufzusagen. Hoffnungslos!
Nach knapp einer Stunde ist die Veranstaltung zu Ende. Wer sich sicher fühlt, geht zur U-Bahn. Alle anderen sammeln sich um Anna Sharyhina, um auf Privatautos verteilt zu werden. Stanislav und ich werden von Annas Freundin Anja abgeholt, die die ganze Zeit hinterm Museum im Wagen auf uns gewartet hat. Was für eine Geduld! Wir fahren aus dem Zentrum raus in eine Brauerei weit außerhalb, die ein eigenes Wirtshaus betreibt. Es ist eine ganze Gruppe von Leuten. Bei dem einen oder anderen Bier lässt sich trefflich über den Abend diskutieren. Niemandem ist etwas passiert. Darauf trinken wir, budmo!
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