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Tschernobyl: Irgendwo zwischen Neugierde und Katastrophentourismus

19.06.2018 | cb — Keine Kommentare
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München auf Besuch in Kyjiw. 25 Menschen reisen 2018 in die Partnerstadt zum CSD. So groß und so bunt war die Truppe der Lesben-, Schwulen-, Bi*-, Trans*- und Inter*-Community aus München noch nie. Im PrideBlog berichten wir täglich über unsere Abenteuer. Heute: Der Trip nach Tschernobyl. Von: Alex Nusselt

Noch bevor wir nach Kyjiw kamen, wussten wir: „Wir wollen nach Tschernobyl.“ Kurz das Internet gecheckt, Anbieter gesucht und gebucht. 90 Dollar pro Person haben wir bezahlt. Heute wissen wir, dass das ziemlich viel Geld ist für die Menschen in der Ukraine. Doch es sollte sich lohnen.

Um 8 Uhr war Treffpunkt am Maidan. Mit einem Kleinbus, klimatisiert, und einer Reisegruppe von insgesamt 18 Personen fuhren wir in das Gebiet, das uns einerseits faszinierte, jetzt aber auch zunehmend ein leicht mulmiges Gefühl verpasste. „Ist es wirklich sicher dort?“

Um 11 Uhr passierten wir die Kontrollstation für den 30-Kilometer-Bereich. Eine gute weitere Stunde für 20 Kilometer und wir waren da, in der Stadt, dem der Atommeiler seinen Namen verdankte: Tschernobyl. Kurz davor die Kontrollstation für den 10-Kilometer-Radius. Mit im Paket gab es jetzt erstmal Mittagessen in der Kantine. Und dann weiter an der Feuerwehr vorbei Richtung Atomkraftwerk.

Wir machten Halt an einem Kindergarten, von heute auf morgen aufgegeben. Hochbetten, Tafeln, Lernblätter auf dem Boden, Spielzeug und der erste Hotspot, ein Punkt, an dem noch erhöhte Strahlung vorhanden ist – fast 30 Mikrosievert pro Stunde (µSv/h) an einem Baum.

Weiter ging’s und als die neue 108-Meter-Edelstahlhaube über dem Reaktor 4 zu sehen war, stieg die Anspannung. Wir fuhren einmal drum herum und hielten knapp 200 Meter daneben an: „Time for pictures and selfies!“

Und das Dosimeter? Es schwankte zwischen 0.3 µSv/h und 0.8 µSv/h (vgl. Bundesamt für Strahlenschutz). Der Bau scheint zu funktionieren und Strahlung abzuhalten. Die Ausmaße gigantisch. Eine Reportage dazu hatten wir auf der Fahrt gesehen, die zeigte wie darunter ferngesteuerte Roboterkräne den alten Sarkophag und dann den Reaktor 4 zerlegen werden. 100 Jahre soll das halten.

Danach kam der für uns spannendere Teil. Die Stadt Prypjat. 50.000 Menschen wurden hier damals innerhalb von 2,5 Stunden evakuiert. Das ging nur, weil allen versprochen wurde, sie könnten nach 3 Tagen zurückkehren. So brach keine Panik aus und die Leute nahmen nur das Nötigste mit. Eine Geisterstadt. Wir sahen die nie benutze Stadthalle, einen Supermarkt und den berühmten Vergnügungspark mit dem Riesenrad. Wir liefen durch einen Wald und als wir vor der Tribüne standen, wussten wir, dass wir gerade einmal quer durch das Sportstadion gelaufen waren. Am Riesenrad gab es einen Hotspot an einer Gondel. Der Geigerzähler kam an einer Stelle auf 250 µSv/h. Ansonsten bewegten wir uns immer zwischen 0.1 µSv/h und 0.3 µSv/h. „Nichts anfassen und nirgends hinsetzen“ galt für uns alle.

 

 

Danach fuhren wir über eine sowjetische Panzerstraße zur Duga-3 Station, dem sog. Russian Woodpecker. Die Anlage war Teil des sowjetischen Raketenabwehrsystems während des Kalten Krieges. Die 150 Meter hohe Antennenanlage ist beeindruckend. Man geht heute wohl davon aus, dass der Reaktor 1 ursprünglich nur für den Betrieb dieser Anlage gebaut wurde.

Nach vier Stunden, vielen Eindrücken, Erklärungen durch die Reiseleiterin und vielen Bildern traten wir die Rückfahrt an. Wir passierten die Kontrollstationen, wurden einzeln auf radioaktive Partikel überprüft und waren gegen 20.30 Uhr wieder in Kyjiw.

Wer die Chance hat, hier herzukommen, sollte es tun. Es lohnt sich. Die Katastrophe hat vieles zerstört, doch kann dieser Tourismus auch dabei helfen, andere Einnahmequellen für diese Region zu erschließen, die landwirtschaftlich nicht zu nutzen ist.

Ach ja. Zwei Jahre nach dem Unglück sind ein paar Menschen zurückgekehrt. Einige leben heute noch: die Jüngste ist 75 und der Älteste 94 Jahre alt, so die Reiseleiterin.

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