BERICHT AUS KIEW – Tag 6 „Die Hoffnung stirbt zuletzt“

Frühstück im Surprise

Und wenn es zum Äußersten kommt? Erstmal Kaffee…

Kiew, 24. Mai 2013 – Was ist die Ukraine? Wie funktioniert dieses Land? Die Ukraine ist ein Widerspruch. Sie verbietet den Pride, und doch findet er statt – nur an einem anderen Ort, außerhalb des Zentrums. Sie wahrt ihr Gesicht und tastet sich unbemerkt vor Richtung Europa. Ein Paradigmenwechsel? Frühstück ohne Frühstück – so beginnt unser Tag. Im Restaurant Surprise gegenüber der Uni gibt es nur Lunch und Dinner, immerhin aber Kaffee. Der kostet dafür gleich fünf Euro – ein unglaublicher Luxus! Latte, Cappuccino, Americano vertreiben die Nacht. Es ist sehr still – alle denken an morgen. Findet der KyivPride statt? Ja, er findet statt. Wird er sicher sein? Ja, er wird sicher sein. Können wir uns sicher sein? Thomas will Klarheit. Was tun wir, wenn es zum Äußersten kommt. Die Debatte mmt Fahrt auf. Die einen haben Angst, die anderen vertrauen darauf, dass alles gut wird. Wir einigen uns darauf, den Ort der Veranstaltung zu besichtigen, um mögliche Risiken und Fluchtwege abzuwägen. Noch steht der Ort des Pride nicht fest. „Aber das sollten wir tun“, sagt Uwe. „Das ist gut für die Gruppe.“ Uwe, Sub-Vorstand, bringt immer Ruhe rein. Er hat diese Gabe. Wir brechen auf zur Gay Alliance Ukraine. Im Community Center sind wir um elf mit Stanislaw Mischtschenko verabredet, Vize-Chef des Vereins. Im Hinterhof liegt versteckt ein schmucker Altbau; das Kellergeschoss ist an die Gay Alliance vermietet. Ein Klingelschild gibt es nicht. Im Hinterhof steht ein Dutzend Volunteers, drinnen herrscht Chaos.
Schweigen ist keine Lösung

Schweigen ist keine Lösung – Aufklärungskampagne der Gay Alliance Ukraine.

Wir sollen eine Viertelstunde warten. Das Pride-Konzept muss völlig neu erstellt, die letzten Details, offene Fragen geklärt werden. Für uns hat jetzt niemand Zeit. Verständlich. Auch Silke Lode von der Süddeutschen und Bernd Müller, Chefredakteur des Münchner Szenemagazins Leo, bekommen das zu spüren. Vom Flughafen kann sie niemand abholen. Ich bin sauer; die beiden Journalisten müssen sich selbst ein Taxi nehmen. Ausgerechnet die Presse. Auch Lydia Dietrich hat Probleme, ins Zentrum zu kommen. Die Stadt Kiew hatte angekündigt, die Stadträtin der Grünen vom Flughafen abzuholen. Doch dann lässt sie sie dort stehen. Dann doch: Stas bittet uns in den Gemeinschaftsraum des Zentrums. Ganz gemütlich ist dieser Kellerraum, unter den Fenstern steht ein Tisch, um ihn herum etwa 20 Stühle, auch an der Wand lehnen welche. An den Mauern hängen Slogans gegen den Gesetzentwurf 0945, der so genannte Gay-Propaganda verbieten will, Poster der Deutschen Aids-Hilfe und selbstgebastelte Stilleben aus Plastikrosen. Hier wird Politik gemacht, sie hat ihren eigenen Stil. Stas erzählt uns über die Arbeit des Zentrums: Psychosoziale Beratung, HIV-Prävention, Freizeit. Ein Magazin und eine Zeitung geben sie heraus. Sollte das Parlament Informationen über Homosexualität verbieten, würde die Arbeit der Gay Alliance unmöglich. Die Aktivist*innen müssten in den Untergrund gehen oder aufgeben.
Im Zentrum der GA

Im Zentrum der Gay Alliance – alle hören aufmerksam zu. Es gibt auch Tee, Maik hat Durst.

Dabei läuft es gerade ganz gut hier. Immer mehr Schwule finden den Weg ins Zentrum: Sie rufen an, dann nennt man ihnen den Weg. Viele Leute mit Problemen kommen hierher; die Gay Alliance hilft. Zwei Kurznachrichten von Silke und Bernd; sie nehmen sich ein Taxi, kein Problem. Alles wird gut. Wir brechen auf ins Premier Palace, ein Fünf-Sterne-Hotel, in dem Bürgermeister Hep Monatzeder, Stadträtin Lydia Dietrich und Stadtrat Reinhard Bauer untergebracht sind. ICTV, einer der größten Privatsender des Landes, will ein Interview mit dem Münchner Bürgermeister führen. Olena Semenowa, im KyivPride-Organisationsteam für die Pressearbeit verantwortlich, und ich fahren hin. Wir müssen übersetzen. Das Hotel ist beeindruckend, ukrainisches Empire, biederer Glanz, gedämpfte Eleganz. Wir bekommen Schwierigkeiten mit dem Personal. „Ein Interview in unseren Räumen müssen Sie anmelden“, sagt der Concierge. Ich sage: „ICTV will Hep Monatzeder interviewen. Er ist ihr Gast und Bürgermeister der Stadt München. Der Kiewer Stadtrat hat ihn eingeladen.“ Von da an geht alles smooth. Ich schiebe nach: „Er ist gekommen, um am KyivPride teilzunehmen.“
Auf der Fahrt zum Interview mit Hep Monatzeder.

Auf der Fahrt zum Interview mit Hep Monatzeder.

Die zwei Journalistinnen stellen sehr freundliche Fragen: Warum er hier ist, was das Land gegen die Homophobie tun kann. Hep Monatzeder gibt sich staatsmännisch, wird aber deutlich: „Ich bin sicher nicht gekommen, um der Stadt Kiew irgendwelche Ratschläge zu erteilen. Wir zeigen hier unsere Solidarität, weil wir gegen Diskriminierung sind, gegen jede Diskriminierung, egal ob aufgrund der Hautfarbe, Religion oder eben der sexuellen Orientierung. Für den sozialen Frieden in einer Stadt ist es immens wichtig, gerade die Minderheiten zu schützen. München hat damit gute Erfahrungen gemacht.“ Ich bin sehr stolz auf unseren Bürgermeister. Das Interview dauert fast eine Stunde. Wir sind spät dran, gleich beginnt der Empfang in der Deutschen Botschaft. Olena bringt uns in ihrem Privatwagen hin. Sie ist aufgeregt: „Ich hatte noch nie einen Bürgermeister im Auto.“ Wir fahren los, stecken bald im Stau. Zu Fuß wären es zehn Minuten gewesen; so brauchen wir fast eine halbe Stunde. Hep Monatzeder und ich kommen zu spät. Anka Feldhusen, stellvertretende Botschafterin, und Kurt-Georg Stöckl-Stillfried, Leiter der Rechts- und Konsularabteilung, bleiben entspannt. Am Tisch sitzen noch Else Gebauer vom Münchner Tourismusamt und fast die gesamte Münchner Delegation. Kaffee, Tee, Kekse, Schokolade – gemütliches Kaffeekränzchen mit Blick auf die Boghdana Chmelnytzkoho. Die Sonne kommt raus. Wir sprechen über die Situation für LGBT in der Ukraine, den Beitrag, den die Deutsche Botschaft zum KyivPride leistet. Stöckl-Stillfried wird am Marsch teilnehmen, mit Kollegen aus der französischen, schwedischen und britischen Botschaft. Die EU meint es ernst mit den Menschenrechten; das Assoziierungsabkommen kann kommen. Wir sind tief beeindruckt, ich bedanke mich bei Frau Feldhusen. „Ihr Engagement bewegt uns alle sehr.“
Interview mit ICTV

Hep Monatzeder bereitet sich auf das Interview mit ICTV vor.

Tatsächlich sieht es so aus, also ob die Polizei den Pride wirklich schützen will. Entsprechende Angaben hat die Behörde gegenüber Amnesty International gemacht, die das Sicherheitskonzept für den Pride mit dem Organisationsteam des KyivPride erarbeitet hat. Es ist ein Wunder. Und paradox: Erst lässt die Stadt den Pride verbieten, Bürgermeister Popow sagt noch: „Wir brauchen keine Gay Prides. Es passt nicht zu unserer Tradition.“ Und doch arbeiten hinter den Kulissen alle Parteien daran, den Pride zu schützen. Für einen Moment sind wir glücklich. Und wenn es nur ein Fake ist? So fake wie die Pressemitteilung, die heute irgendjemand im Namen des KyivPride an die ukrainische Presse verschickt hat? Inhalt: Der KyivPride findet doch am ursprünglichen Ort statt; die Veranstalter*innen seien in Berufung gegangen und das Gericht habe ihnen Recht gegeben. Eine Diffamierungstaktik. Von wem? Wir wissen es wirklich nicht, sagt Olena. Sie hat den ganzne Nachmittag damit zu tun, Anrufe von Journalistinnen und Journalisten abzuwehren, die wissen wollen, ob die Information stimmt. Sie stimmt nicht.
Propaganda

Gay-Propaganda vor der Botschaft: Die Münchner Delegation in Kiew.

Der Pride wird morgen stattfinden. 500 Polizist*innen sollen kommen und die 150 Teilnehmer*innen schützen; der Veranstaltungsort bleibt bis zuletzt geheim. Die Leute werden morgen früh in Bussen hingebracht. Nur wer sich registriert, kann teilnehmen. Sicherheit steht an erster Stelle. Es wird ein Pride der Aktivist*innen, geschlossen, nicht offen für alle, aber immerhin. Ein Grund zum Feiern ist das allemal. Beim Diplomaten-Empfang in der niederländischen Botschaft sind alle da. Das Catering haben die Münchner mit ihren 2000 Euro Spenden finanziert. Bei einem Glas Wein, einem Sekt und Häppchen kommen die Leute ins Gespräch; Vernetzung ist alles. Ein paar Ansprachen, die Kiewer LGBT-Community unterzeichnet die Kooperationsvereinbarung mit München. Ein großer und emotionaler Moment, der zeigt, wie weit eine Bewegung tragen kann, wenn sie mit Herzblut erfüllt ist.
Declaration of Cooperation

Münchner und Kiewer unterzeichnen das Kooperationsabkommen. Im Bild: Stas Naumenko von Gay Alliance und Taras Karasyitschuk, Chairman des KyivPride.

Stolz können vor allem die Veranstalter*innen des KyivPride sein, allen voran Chairman Taras Karasyitschuk, der im vergangenen Jahr Opfer seines Engagements wurde. Man hat ihn zusammengeschlagen. Was sie alles geleistet haben, lässt sich hier heute Abend mit Händen fassen. Alle wichtigen Botschaften und LGBT-Organisationen sind vertreten. Und alle 17 Vertreter*innen aus München inklusive Bürgermeister und Stadtrat. Es ist ein Wunder. Hoffen wir, dass morgen noch eines geschieht. Zurück zur Übersicht