#FundReise Tag 15 – Shelter

Nach dem Raketenangriff am Freitag ist Kyjiw schnell zur Normalität zurückgekehrt. Auch Sibylle nimmt ihre Blog-Aktivitäten wieder auf. Vor Kurzem hat sie einen Shelter besucht, eine Schutzunterkunft für queere Menschen in Not. Unser Partner-CSD, der KyivPride, betreibt ihn. Das Zusammenleben so unterschiedlicher Menschen gelingt nicht immer, deshalb gelten klare Regeln.

Das ist der Blog von Sibylle von Tiedemann, Mitgründerin von Munich Kyiv Queer. Sie wollte nicht mehr nur zuschauen, was in der Ukraine passiert, und fuhr selbst hin. Vor Ort besucht sie seit einigen Tagen unsere Freund*innen und Partner, sie berichtet und sammelt Spenden.

Strom: erstaunlich viel!!!
Temperatur: erstaunlich gut!!!
Spendenbarometer: 9608,67 von 18.000 Euro
Besondere Vorkommnisse: Rückkehr zur Normalität
Alle Blogbeiträge: Sibylles #FundReise nach Kyjiw mitten im Krieg


Am Freitag, 16.12., war der größte Raketenbeschuss seit Kriegsbeginn. Spürbar, hörbar, beängstigend.

Nach mehr als vier Stunden Luftalarm finden die Kyjiwer*innen erstaunlich schnell zu ihrer Normalität zurück. Die Blumenverkäuferin an ihren Straßenstand, die Menschen in die Cafés, die Techniker zur kaputtgeschossenen Infrastruktur.

Heizung hat man oder eben nicht

Das Wasser (aus dem Hahn) fließt schon am Samstag wieder, die Heizung wärmt Sonntag. Sie funktioniert in meiner Privatunterkunft generell gut, was nur auf einen Teil der Kyjiwer Haushalte zutrifft. Strom wird „rollierend“, oft auch außerplanmäßig abgeschaltet, Heizung hat man oder eben nicht.

Und die Menschen? Ich will jetzt nicht sagen, dass die Stimmung super ist, aber sie ist auch nicht katastrophal. Ein erstaunliches Land.

Am Tag vor dem großen Raketenangriff war ich im Shelter eingeladen, das der KyivPride seit Mai 2022 betreibt. Hiermit reiche ich den dazugehörigen Blog-Beitrag nach, kehre also auch zu meiner Blog-Normalität zurück.

Überraschendes Treffen im Aroma-Café

Und muss mit einem Geständnis beginnen: Ich habe ein sehr gutes Gesichts-, aber kein gutes Namensgedächtnis. Das ist in einem Land, in dem es traditionell sehr viele Olhas, Lenas und Nastjas gibt, etwas unpraktisch, um es milde auszudrücken. Mein ukrainisches Telefon ist voll mit Nummern wie „Olha Kyjiw“, bei sehr alten Kontakten steht da auch schon mal „Lena Kiew“, also in der russischen Transkription. (Spätestens nach dem Sieg der Ukraine schreibt ihr alle Kyjiw. Ich wette mit euch.)

So kam es, dass ich ganz lange nicht kapiert habe, dass das Shelter vom KyivPride von einer Olha betrieben wird, die ich persönlich kenne, da sie 2018 an Uwe Hagenbergs Workshop „Community Building“ in München teilgenommen hat. Mit Jul. Die beiden sind ein Paar. So war in Kyjiw die Wiedersehensfreude umso größer, als mich die beiden im Aroma Kava an einer zentralen Metro-Station treffen. Olha fragt mich dann auch gleich nach Uwe, wie es ihm geht.

Immer wieder merke ich in solchen Momenten, dass Munich Kyiv Queer schon viele Jahre intensive Kontakte zu tollen Menschen pflegt. Zu Menschen wie Olha und Jul.

Nach dem Kaffee führen die beiden mich ins Shelter. Um es gleich vorweg zu nehmen: Ich bin beeindruckt. Sehr. Vom Shelter. Der Organisation. Der Arbeit, die hier geleistet wird. Der Bedeutung für die LGBTIQ*-Community. Die geht weit über ein kostenloses temporäres Obdach hinaus, was der aus dem Englischen stammende Begriff „Shelter“ eigentlich meint. Mit Kriegsbeginn hat er sich im Ukrainischen aufgrund der allgegenwärtigen Not etabliert.

Im Shelter bieten sie Schutzbedürftigen auch Jobperspektiven

„Warum suchen Menschen Schutz im Shelter vom KyivPride“, frage ich Olha und Jul. Wir sitzen mittlerweile im gemütlichen Wohnzimmer. Mein Smartphone hängt am Ladekabel (immer laden, wenn möglich, wurde mir hier schnell zur Gewohnheit …).

„Menschen fliehen aus okkupierten Gebieten, haben kriegsbedingt ihre Arbeit verloren und daher kein Einkommen. Oder es gibt Probleme mit dem Eltern“, antwortet Jul. Olha ergänzt, dass sie daher nicht nur eine Unterkunft anbieten, sondern auch ein berufliches Training. Die gelernte Masseurin ist in ihrem Element, als sie nun erzählt.

Angeboten werden schnell zu erlernende Tätigkeiten: Masseur*in, Barrista (die Ukrainer*innen sind ein kaffeeverrücktes Volk!), Friseur*in, Kellner*in. Das Shelter des KyivPride ist daher auch ein Ort der persönlichen Entwicklung. Es gibt psychologische und juristische Beratung, Unterstützung bei der Arbeitsplatzsuche.

Das Shelter ist nur für LGBTIQ*, was vorab geprüft wird. Bei Einzug werden die Passdaten fotografiert, ein Covid-Impfnachweis muss vorgelegt werden. Schutzsuchende aus besetzten Gebieten, wo keine Impfung möglich war, müssen einen Schnelltest vorlegen und sich in Kyjiw impfen lassen. Die Impfung ist kostenlos. Bei vielen Menschen auf engem Raum sehr sinnvolle Maßnahmen, in der eher impfskeptischen Ukraine dennoch keine Selbstverständlichkeit.

Das Shelter bietet Platz für 20 bis 25 LGBTIQ*-Personen, die bis zu einem Monat (früher: zwei Wochen) bleiben können. Untergebracht ist es in einer großen Altbauwohnung in zentraler Lage. Neben dem Schlafsaal auf einer Galerie gibt es eine Wohnküche, ein Badezimmer mit Toilette, einen Aufenthaltsraum, ein Büro und einen kleinen Balkon, den besonderes die Raucher*innen schätzen. Denn im Shelter gilt Rauchverbot.

Und das ist nicht das einzige Verbot. Nach und nach haben sich die Regeln entwickelt, die es braucht, wenn viele unterschiedliche Menschen auf engstem Raum miteinander auskommen müssen, die eigentlich nur drei Dinge gemeinsam haben: Sie gehören zur LGBTIQ*-Community, befinden sich in einer Notlage und brauchen eine Unterkunft in Kyjiw.

Die Spülmaschine wurde aus hygienischen Gründen angeschafft. Sie soll das Infektionsrisiko minimieren. Seitdem sind Hühnchen erlaubt. Foto: Sibylle von Tiedemann

Bei den Regeln geht es eigentlich immer um Schutz: der Bedürfnisse des Einzelnen, der Gruppe und des Shelters. WG-erfahrene Leser*innen des Blogs wie auch Familien haben sicherlich eine Ahnung. Ruhe, Sauberkeit, Tagesabläufe sind zentrale Punkte. Da hier Krieg herrscht, gibt es die Pflicht, bei Luftalarm in den U-Bahn-Bunker zu gehen. Ausnahmslos. Die Regeln müssen bei Einzug unterschrieben werden.

Die ganz große Nachfrage wie in den ersten Kriegsmonaten besteht aktuell nicht. Doch die Kriegssituation ist dynamisch, Kyjiw hat durch die russischen Angriffe ein massives Strom- und Heizungsproblem. Dabei sind die wirklich kalten Temperaturen noch nicht gekommen. Die Zahl der Schutzsuchenden kann also schnell wieder steigen.

Geld für Medikamente, für Ausbildung

„Wie können wir von Munich Kyiv Queer, wie können die Münchner*innen, wie wir alle helfen?“, frage ich.

„Medikamente. Wir brauchen Geld für Medikamente“, erklärt Olha mit Blick auf die Erkältungssaison. „Und für die Ausbildungslehrgänge wäre eine finanzielle Unterstützung großartig. Für Material, für die Trainer*innen.“

„Na, ich bin mir sicher, dass die Münchner*innen ein so tolles Projekt unterstützen“, sage ich zuversichtlich.

#FundReise #MunichKyivLove #18000Euro

Sibylle sammelt Spenden für


EINZELFALLHILFE Munich Kyiv Queer unterstützt mit einer eigenen, privaten Spendenaktion über www.paypal.me/ConradBreyer die Menschen in der Ukraine, mit denen wir in den vergangenen zehn Jahren eng zusammengearbeitet haben. Das ist direkt, schnell und gebührenfrei, wenn Ihr die Option „Geld an einen Freund senden“ wählt. Kennwort #FundReise. Wer kein PayPal hat, kann alternativ an das Privatkonto von Conrad Breyer, IBAN: DE42701500000021121454, Geld schicken. Wir helfen unsere Freund*innen und Partnern. Wir kennen sie persönlich und wir vermissen sie schmerzlich.

HILFE FÜR KRIEGSOPFER: KINDER, ALTE UND KRANKE MENSCHEN IN KYJIW UND UMGEBUNG Der Verein „Brücke nach Kiew“ unterstützt hilfsbedürftige Personen, insbesondere Kinder und kinderreiche Familien, finanziell schwache, gering verdienende und/oder auch Tschernobyl-geschädigte Personen in der Ukraine und hier insbesondere in Kyjiw – insbesondere über ein Pat*innen-Programm. Das Ziel ist Hilfe zur Selbsthilfe.

Empfänger: Brücke nach Kiew e.V.
Bank: Raiffeisenbank München Süd eG
IBAN: DE74 7016 9466 0000 0199 50
BIC: GENODEF1M03
Kennwort: #FundReise

Ab 200 Euro kann eine Spendenbescheinigung ausgestellt werden.

HILFE FÜR LGBTIQ*-ORGANISATIONEN Wir haben zum Schutz von LGBTIQ* aus der Ukraine das Bündnis Queere Nothilfe Ukraine mitgegründet. Ihm gehören um die 40 LGBTIQ*-Organisationen in Deutschand an. Sie alle haben ganz unterschiedliche Kontakte in die Ukraine und sind bestens vernetzt mit Menschenrechtsorganisationen vor Ort, die Gelder für die Versorgung oder Evakuierung queerer Menschen brauchen. Spendet hier

Mehr Informationen: www.MunichKyivQueer.org/helfen

Wenn in Münchens Partnerstadt Kyiw CSD ist, läuft alles ein bisschen anders. Das beginnt schon beim Einlass: Wer beim Marsch mitlaufen will, muss durch einen Metalldetektor. Und die 1,2 Kilometer lange Strecke, die es zurückzulegen gilt, wird von allen Seiten abgeschirmt. In diesem Jahr hatten über 5000 Beamte den Korridor gebildet, in dem sich die 2500 Teilnehmer*innen bewegten. Trotzdem haben Nationalisten nach dem Zug sechs Männer verprügelt. Immerhin: Es war erstmals ein Wagen mit Drag Queens dabei. Zum CSD in München kommen jährlich 125.000 Leute und von der Polizei ist kaum etwas zu sehen bei der bunten Parade, die sich am 15. Juli wieder gut drei Stunden lang durch das Zentrum der Stadt schlängeln wird. Es ist eine queere Welt!

Grund zum Feiern gibt es trotzdem, denn der KyivPride wächst. 2013 hat er erstmals stattgefunden – mit damals 150 Aktivist*innen. München war dabei. Der CSD erweist seinem Partner-Pride die Ehre und lädt die Macher*innen ein, außerdem einige Vertreter*innen der großen LSBTI-Organisationen des Landes. LSBTI steht für Lesben, Schwule, Bi*, Trans* und Inter*. Für die 14 Gäste hat die Community ein attraktives Besuchsprogramm zusammengestellt: Sie lernen die Münchner Szene mit ihren vielen Gruppen und Vereinen kennen, einige städtische Stellen. Der Generalkonsul der Ukraine Vadym Kostiuk empfängt sie und natürlich Oberbürgermeister Dieter Reiter. Bei der Politparade laufen sie mit; auch auf der CSD-Bühne sind sie präsent.

Kreativer Protest gegen die Rechten

Freilich tragen die Ukrainer*innen wieder mit eigenen Programmpunkten zur Pride Week in München bei. So läuft im Kino Atelier, Sonnenstraße 12, im Rahmen der lesbisch-schwulen Filmreihe MonGay am Montag, 10. Juli, um 21.15 Uhr die Dokumentation Rainbow on Tour – wie kreativer Protest die Welt zu einem besseren Ort macht. Der Film berichtet von den Abenteuern, die die Münchner Künstlerin Naomi Lawrence im Mai 2016 auf ihrer Creative-Protest-Tour durch die Ukraine erlebt hat. Eine Premiere! In vier Städten gab sie Workshops. Ihr Ansatz: Mit Kunst die eigenen Anliegen zum Ausdruck bringen, Dinge nachhaltig verändern mit positiven Botschaften und das ohne großen Aufwand. Im Anschluss diskutiert Lawrence mit der Landtagsabgeordneten Claudia Stamm und der Filmemacherin Liudmyla Kyrylenko zum Thema: „Kreativer Protest – ein probates Mittel gegen den neuen Rechtspopulismus auch in Deutschland?“

Am 13. Juli dann gibt der Menschenrechtsaktivist und Trainer Yuri Yourski aus Tallinn im Sub ab 19.30 Uhr einen Video-Workshop mit dem Titel Social Video Advertisment – Wie man mit Bewegtbild für gleiche Rechte kämpft. Das Ganze in der Müllerstraße 43. Beide Veranstaltungen folgen dem diesjährigen CSD-Motto: „Gleiche Rechte. Gegen Rechts!“, unter dem heuer alle Veranstaltungen stehen.

Kein KyivPride ohne München

Die Kooperation zwischen CSD und KyivPride besteht seit 2012. Parallel besteht eine Szenekooperation, die die Kontaktgruppe Munich Kyiv Queer koordiniert. Politische Aktionen, Kulturevents und Workshops gehören zum Austausch. Gemeinsam haben sie viel bewegt. Ohne München ist der KyivPride nicht denkbar.