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Brief von der Front

21.03.2024 | cb — Keine Kommentare
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Petro Zherukha, ein 27-jähriger, bisexueller cis Mann, erzählt von seinem Leben als Soldat. Trotz aller Gefahren stellt sich Petro mutig seiner Identität und trägt stolz ein Regenbogen-Emblem auf seiner Uniform, um Akzeptanz in den eigenen Reihen zu finden. Unsere Kolumnistin Iryna Hanenkova hat seine Geschichte aufgeschrieben.

Mit Beginn der Invasion ging ich zur Armee. In diesen Tagen schien alles seine Bedeutung zu verlieren, mit Ausnahme des Sieges, der als einziges Moment direkt mit einer vermeintlichen Zukunft verbunden war.

Eine Zeit lang hatte ich das Gefühl, dass wir alle gar keine Zukunft mehr haben, weil wir und unsere Erinnerungen abgeschlachtet wurden. Aber ich verstand bald, dass die Liebe zu allem und der Glaube daran stärker waren als jede Angst vor dem Tod.

In der Armee diene ich in der Versorgungseinheit und kümmere mich um alles, was mit Transport zu tun hat. Meine Militäreinheit kam im Winter 2022 schnell an die Front; wir hatten wenig Erfahrung. Jeder Zweifel, jeder Fehler konnte unser Ende bedeuten.

Unser Logistikteam arbeitete fast rund um die Uhr. Wir diskutierten darüber, ob wir bei Alarm oder Explosionen in Deckung gehen sollten. Wir beschlossen, dass wir bis zum Schluss arbeiten würden. Wenn eine Rakete das Gebäude, in dem wir arbeiteten, treffen und wir sterben sollten, dann war das eben so. Und wenn nicht – dann explodiert sie irgendwo in der Nähe, wir brauchen uns keine Sorgen machen und können unsere Arbeit erst recht fortsetzen. Wir konnten uns keine Verzögerung bei der Arbeit leisten, da dies direkt Auswirkungen auf die Versorgung unserer Kämpfer*innen in den Stellungen haben würde.

Die Armee stellt dich als queerer Mensch vor Herausforderungen

Die Armee war nie die sicherste Umgebung für mich oder irgendjemanden im Allgemeinen. Der Dienst ist eine ziemlich anspruchsvolle Aufgabe. Das heißt, wenn man treu dient.

Wir bemühen uns, gute Soldat*innen zu sein, setz*en all unsere Energie, unsere Prinzipien, unseren persönlichen Freiraum, unsere Mittel, unsere Fähigkeiten, unser Wissen und sogar einige grundlegende Menschenrechte ein, nur um den Sieg näher zu bringen. Wir wissen, dass dieses System uns niemals danken wird, also akzeptieren wir die Tatsache, dass wir anonyme Wohltäter*innen sind und geben alles, was wir haben, um diesen Krieg zu gewinnen.

Ich kämpfte aber lange um meine Persönlichkeit und meine Identität dort. Ich habe gesehen, wie Menschen an der Front ihre Persönlichkeit verändert haben. Ich merke, dass auch ich mich anders fühle und vieles von dem verloren habe, was ich einst war.

Als ich meinen Freund*innen von der Idee erzählte, dass ich mich vielleicht outen sollte, pfiffen sie mich zurück. Ich bin sicher: Sie hatten Angst vor dem Unbekannten. Nach dem Sieg, sagten sie. Jetzt ist nicht die Zeit. Ein Spruch, der unsere Gesellschaft nur allzu deutlich beschreibt: Wir entscheiden uns, den Wunsch, jetzt glücklich zu sein, aufzuschieben. Und ich habe zunächst gehorcht.

Ich habe einen Freund, der sich für das Gesetz für eingetragene Lebenspartnerschaften eingesetzt, es mitformuliert hat. Als ich erfuhr, was er da für Menschen wie mich getan hat, beschloss ich, meine sexuelle Orientierung nicht mehr zu unterdrücken, keine Angst mehr vor den Reaktionen zu haben und offen über Diskriminierung zu sprechen, wenn sie passiert. Und so öffnete ich mich, vielleicht unter den gefährlichsten Bedingungen, die man sich vorstellen kann. Ihr werdet verstehen, dass dies in einem Kriegsgebiet geschah zwischen Brüdern und Schwestern, die seit mehr als einem Jahr kämpfen, die müde, erschöpft, verwundet, verloren sind. Meine Vorgesetzten hatten Angst, ich könne erschossen werden. Ich habe das nie geglaubt.

Als ich ein Abzeichen mit einer Regenbogenflagge an meiner Uniform anbrachte, wurde mir regelmäßig „geraten“, es abzunehmen, und ich glaube, dass sie einfach Angst hatten, es komme zu Aggressionen mir gegenüber. Einer fühlte sich unwohl, ein anderer diskriminierte mich passiv, und wieder jemand anders dachte, ich würde ihn selbst diskriminieren.

Ich will so akzeptiert werden, wie ich bin

Aber ich habe es akzeptiert: Ich bin für viele eine Zumutung. Deshalb diene ich mit einem Regenbogenabzeichen, damit mein Militär mich so nimmt, wie ich bin. Ich bin stolz, dass mir das gelungen ist, und ich habe das Gefühl, dass ich mich auf diese Weise dafür entscheide, gerade jetzt glücklich zu sein.

So könnt Ihr helfen


EINZELFALLHILFE Munich Kyiv Queer unterstützt mit einer eigenen, privaten Spendenaktion über www.paypal.me/ConradBreyer die Menschen in der Ukraine, die in Not oder auf der Flucht sind. Denn nicht alle sind an ukrainische LGBTIQ*-Organisationen (s.u.) angebunden. Die Hilfe ist direkt, schnell und gebührenfrei, wenn Ihr auf PayPal die Option „Für Freunde und Familie“ wählt. Wer kein PayPal hat, kann alternativ an das Privatkonto von Conrad Breyer, Sprecher Munich Kyiv Queer, IBAN: DE42701500000021121454, Geld schicken.

Wir helfen unsere Freund*innen und Partnern. Alle Gesuche aus der Community werden in Zusammenarbeit mit unseren queeren Partner-Organisationen in der Ukraine akribisch geprüft. Können sie selbst helfen, übernehmen sie. Übersteigen die Anfragen die (finanziellen und/oder materiellen) Möglichkeiten der LGBTIQ*-Organisationen, sind wir gefragt.

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