Aktuelles

„Meine Schwester ist tot!“

20.10.2022 | cb — Keine Kommentare
0

Hanna und Oleksandra, ein lesbisches Paar aus Odesa, haben viel durchgemacht. Auf der Flucht wurde die Familie getrennt, Oleksandras Schwester starb später in Deutschland. Unsere Kollegin und Aktivistin Iryna Hanenkova hat sie gebeten, uns ihre Geschichte zu erzählen. Heute leben sie in Dresden und kämpfen dort mit ihren Mitteln für die Freiheit und ihr Land: Sascha malt, Hanna singt.

Hanna: In der Nacht zum 24. Februar kam Sascha (Abkürzung von Oleksandra; Anm.d.Red.) gerade aus Kyjiw nach Odesa zurück. Sie hatte mit einer ihrer Collagen an einer Ausstellung teilgenommen. Anfang des Monats noch hatte sie lange darüber nachgedacht, ob sie überhaupt nach Kyjiw fahren sollte. Besorgt hatte sie ihren Koffer gepackt.

Wir versteckten uns im Haus der Großmutter

In der Nacht vom 23. auf den 24. konnte ich wegen der schlechten Nachrichten nicht schlafen; ich wartete auf Sascha. Gegen 3 Uhr hörte ich das Geräusch eines Flugzeugs, definitiv kein gewöhnliches Flugzeug, mehr so eins, das man aus Kriegsfilmen kennt. Um 3.50 Uhr holte ich Sascha aus dem Zug.

Als wir gegen 4 Uhr morgens das Haus betraten, hörten wir die ersten Explosionen. Die Chats auf Telegram waren sofort voll – jede*r hat das mitgekriegt. Zum Duschen blieb keine Zeit. Wir sammelten unsere Sachen ein, dann rief ich meine Großmutter an und wir versteckten uns in ihrem Keller.

Hanna und Oleksandra. Foto: privat

Oleksandra: Wir hatten dann Glück. Es gab einen Sitzplatz für uns im Auto meiner trans* Mutter; ja, auch sie gehört der Community an. Mein Stiefbruder weigerte sich, von Odesa wegzugehen.

Ich, meine trans* Mutter, meine Stiefmutter, meine 14-jährige Schwester, meine Freundin und ein großer Hund – alle in einem Auto. So sind wir am ersten Tag losgefahren. Mit ein paar Taschen. Die Katze ließen wir bei meiner Großmutter zurück. Meine Mutter, die anderen Schwestern, die Großeltern blieben in der Ukraine.

Schuldgefühle, Angst, wir hatten Angst

18 Stunden fuhren wir bis an die Grenze zu Moldawien, weitere vier Stunden bis zur Hauptstadt Chisinau. Wir suchten Unterschlupf bei einer LGBTIQ*-Organisation, wozu uns eine Aktivistin, Hannas Freundin, geraten hatte, einfach, weil das sicherer für uns schien. Schließlich identifizieren sich in meiner Familie alle auf die eine oder andere Weise als LGBTIQ*.

In Moldawien kamen wir in einer Art Frauenhaus unter. Wir waren vom 25. Februar bis 2. März dort. Dort bekamen wir unsere ersten Klamotten, einen Rucksack (weil der alte nichts mehr taugte), gingen mehrmals zum Psychologen. Wir hatten eine Menge Schuldgefühle, und Angst, panische Angst vor allem.

Aktion gegen Gewalt an Frauen. Foto: privat

Am 2. März brachen wir nach Rumänien auf. Der Weg dorthin war beschwerlich, das kalte Wetter, einer unserer Scheinwerfer ging kaputt, es schneite wie verrückt, überall diese Serpentinen. Wir kamen in der Nacht bis Iași und dort bei Gastgeber*innen unter. Das Fernsehen zeigte Nachrichten über die Ukraine.

Am 3. März fuhren wir nach Bukarest, wo wir bis zum 7. März blieben. Meinen 20. Geburtstag hab ich auf dieser Reise gefeiert. In Timisoara, einer Stadt an der Grenze zu Ungarn, blieben wir zwei Tage bei einem wunderbaren Ehepaar, das Labradore züchtete.

Meine Familie habe ich nie wieder gesehen

Am 9. März reisten wir weiter nach Wien. Wir standen lange an der Grenze zu Ungarn und wie wir gesehen haben, war es für alle ukrainischen Geflüchteten schwierig, diese Grenze zu überqueren. Aber wir schafften es und kamen in etwa sechs Stunden nach Wien.

Dort wurden unsere Familie getrennt. Wir, Hanna und ich, hatten vor, nach Dresden zu fahren. Meine trans* Mutter, meine Stiefmutter und Schwester wollten nach Siegen, weil sie dort einen Arzt kannten, der ihnen helfen sollte. Danach haben wir den Kontakt verloren. Tatsächlich haben wir sie seit dem 19. Februar nicht mehr gesehen. Am 10. März erreichten Hanna und ich unser endgültiges Ziel.

Oleksandra stellt aus. Foto: privat

Hanna: In Dresden wohnten wir zunächst in einer Wohnung, die wir über Facebook gefunden hatten. Seit Mai sind wir in einem Hostel. Hier leben sehr unterschiedliche Menschen aller Nationalitäten. Das hilft mir sehr.

Sascha und ich versuchen beide, Spenden für die Ukraine aufzutreiben. Sascha macht Ausstellungen mit ihren Collagen, ich beschäftige mich mit traditionellem ukrainischem Gesang. Ich habe eine Gruppe ganz verschiedener Leute zusammengetrommelt, nicht nur Ukrainer*innen. Ich glaube, dass wir allen von diesem Krieg erzählen, alle einbeziehen müssen.

Wir reden, sammeln Spenden, machen Kunst

Zum Glück können wir uns beide mehr oder weniger gut auf Englisch bzw. Deutsch verständigen. Ich war vor dem Krieg Fremdsprachenlehrerin, Sascha hat ihr Abitur auf Deutsch gemacht.

Ich erkläre allen, die mich als Ukrainerin fragen, was in der Ukraine vor sich geht. Russische Narrative sind hier leider fast überall zu finden. Ich habe mich mit einem Historiker in Verbindung gesetzt und werde mit ihm ein Projekt durchführen, das den Menschen hilft, die ukrainische Kultur nicht aus Sicht des russischen Imperiums zu sehen.

Im Sommer verstarb Saschas 14-jährige Schwester; sie litt unter einer Depression. Wir wollen ihr zu Ehren nun ein Kunstprojekt machen. Das ist erstens für uns persönlich wichtig ist und zweitens möchten wir den Menschen sagen, dass Krieg eine schreckliche Sache ist, der nicht nur irgendwo weit weg tötet, sondern alle Menschen betrifft, auch die, die nicht an der Front kämpfen.

Mein persönlicher Krieg – leider darf ich nicht in den Krieg ziehen, weil meine Gelenke schmerzen und ich nicht viel laufen kann – besteht darin, den Menschen klar zu machen, dass das nicht irgendein Konflikt ist. Dass er nicht erst gestern oder gar vor Jahrhunderten begonnen hat, sondern dass er ein Kampf für Menschlichkeit und demokratische Werte im Jetzt ist.

Der Krieg ist ein Kampf um unsere Freiheit

Ich bin eine ethnische Ukrainerin, die Ukrainisch spricht und sich als nicht-binäre Ukrainer*in identifiziert. Ich bin in der UdSSR auf dem Gebiet des heutigen Tatarstan (Russland) geboren und habe dort die Schule besucht, wurde wegen meiner Andersartigkeit ständig diskriminiert und habe gesehen, wie andere, die anders sind, leiden, aber ich konnte nichts tun. Der Repressionsapparat ist stark und grausam; die meisten Menschen sind konformistisch und nicht zur Konfrontation bereit. Und diejenigen, die ihren Kopf erheben, landen entweder im Gefängnis oder in einem Sarg. Im besten Fall sind sie gezwungen, das Land zu verlassen.

Bei erster Gelegenheit bin ich in das Land zu den Menschen gezogen, die ich wirklich als meine eigenen Landsleute empfinde. Jetzt sind die Leute, die in ihrem Land Menschen diskriminieren, gekommen, um mein Volk zu töten. Ich verstehe sehr gut, wofür ich kämpfe, und ich möchte, dass das jede*r versteht.


So könnt Ihr helfen:

Einzelfallhilfe

Munich Kyiv Queer unterstützt mit einer eigenen, privaten Spendenaktion über www.paypal.me/ConradBreyer die Menschen in der Ukraine, mit denen wir in den vergangenen zehn Jahren eng zusammengearbeitet haben. Das istdirekt, schnell und gebührenfrei, wenn Ihr die Option „Geld an einen Freund senden“ wählt. Wer kein PayPal hat, kann alternativ an das Privatkonto von Conrad Breyer, IBAN: DE42701500000021121454, Geld schicken. Wir helfen unsere Freund*innen und Partnern. Wir kennen sie persönlich und wir vermissen sie schmerzlich.

Hilfe für LGBTIQ*-Organisationen

Wir haben zum Schutz von LGBTIQ* aus der Ukraine das Bündnis Queere Nothilfe Ukraine mitgegründet. Ihm gehören um die 40 LGBTIQ*-Organisationen in Deutschand an. Sie alle haben ganz unterschiedliche Kontakte in die Ukraine und sind bestens vernetzt mit Menschenrechtsorganisationen vor Ort, die Gelder für die Versorgung oder Evakuierung queerer Menschen brauchen. Spendet hier

Fragen? www.MunichKyivQueer.org/helfen

Kommentare sind geschlossen.